Archäologie Antike Tempel digital rekonstruieren
3D-Modelle von RUB-Forschenden ermöglichen präzise Rekonstruktion und Datierung des römischen Forumstempels im süditalienischen Paestum.
Rund 100 Kilometer südlich von Neapel liegt das UNESCO-Weltkulturerbe Paestum. Die antike Ruinenstätte mit Tempeln aus römischer und griechischer Zeit gehört zu den besterhaltenen in ganz Italien und zu den wichtigsten Ausgrabungsorten der Geschichte. „Eine hoch spannende Stätte“, findet auch Jon Albers, Professor für klassische Archäologie an der Ruhr-Universität, der seit 2017 den römischen Forumstempel, und damit den unbekanntesten der insgesamt fünf monumentalen Tempel Paestums, erforscht. Ein Ziel des Ausgrabungs- und Forschungsprojektes ist es, den Tempel, insbesondere das Gebälk, basierend auf alten und neuen Ausgrabungsfunden und mithilfe von innovativer 3D-Methodik vollständig zu rekonstruieren und so die bislang ungeklärte Frage des Entstehungsdatums zu beantworten.
„Paestum wurde im späten siebten, frühen sechsten Jahrhundert vor Christus von griechischen Siedlerinnen und Siedlern gegründet, die dort drei große Tempel erbauten“, erklärt Jon Albers. Um 400 vor Christus übernahm das Volk der Lukaner die Herrschaft. Als schließlich die Römer um 273 vor Christus die Stadt eroberten, gaben sie der Stadt eine typisch römische Prägung. „In diese Epoche fällt auch der Bau eines neuen Versammlungsplatzes und des Forumstempels“, so Albers. Der Tempel zeichne sich durch einen erstaunlichen Erhaltungszustand aus. „Es gibt keinen Tempel dieser Art, der so gut erhalten ist. Das macht dieses Bauwerk zum Referenzpunkt der hellenistischen Architektur Italiens“, hebt der Wissenschaftler hervor. „Aufgrund seiner Bauornamentik und Kombination von dorischer und korinthischer Ordnung kommt dem Tempel eine zentrale Stellung bezüglich der Entwicklung der mittel- bis spätrepublikanischen Architektur in Italien zu“, führt Albers weiter aus.
Rätsel um römischen Tempel
Die ersten umfangreichen Arbeiten und Publikationen zum Forumstempel nahmen Archäologinnen und Archäologen in den 1930er-Jahren vor. Der Tempel konnte bis heute weder exakt rekonstruiert, noch konnte seine genaue Datierung überzeugend geklärt werden. So schwanken die Datierungen für den Tempel zwischen dem vierten und dem frühen ersten Jahrhundert vor Christus. Woran liegt das? „Die letzten Grabungen aus den 1970er-Jahren haben zu wenig Material für eine exakte Datierung befördert“, so Albers. „Wir haben 2017 festgestellt, dass etliche Architekturteile und Bauglieder noch nicht in der Rekonstruktion berücksichtigt wurden.“ Das gelte auch für wichtige Details der Ornamentik. Schließlich ließe sich auch die Keramik, die die Bochumer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor Ort gefunden haben, bis maximal in das dritte Jahrhundert vor Christus datieren und deute somit eine ältere Entstehungsgeschichte an. Langfristiges Ziel des Projektes sei es daher, endlich die Unstimmigkeiten hinsichtlich der Datierung zu lösen, das zugehörige Material und die Bauornamentik vollständig aufzunehmen und ein klareres, möglicherweise neues Bild der Anlage zu gewinnen.
Mit Spitzhake und Schüppe bei 35 Grad
Um eine verlässliche Datierung vorzunehmen, sind weitere Ausgrabungen in bislang nicht untersuchten Bereichen des Tempels unabdingbar. 2019 hat das RUB-Forschungsteam damit begonnen, alte Grabungsschnitte wieder zu eröffnen und neue Bereiche zu ergraben. Seitdem führen die Forscherinnen und Forscher jährlich in den Sommersemesterferien Ausgrabungen vor Ort durch. Auch Studierende der RUB sind mit dabei. „Unser Projekt ist als Lehrgrabung konzipiert. Studierende haben so die Möglichkeit, in allen typischen Bereichen einer archäologischen Mittelmeergrabung mitzuwirken und Erfahrung zu sammeln“, erklärt Albers
An der Seite von RUB-Forschenden tragen die Studierenden in Paestum Schicht für Schicht die Erde ab, halten Bodenveränderungen fest, waschen, trocknen, fotografieren, zeichnen und dokumentieren ihre Funde. Dazu zählen bauliche Reste des Gebälks, Fragmente der antiken Mosaikböden, Glas, Keramik, Terrakotta, Dachziegel und vieles mehr.
Archäologie ist hier nicht mit dem Pinselchen ein bisschen Sand wegschieben, sondern Spitzhacke, Schüppe, Eimer und Schubkarre. Bei 35 Grad kann das sehr ermüdend sein.
Lucas Latzel
"Archäologie ist hier nicht mit dem Pinselchen ein bisschen Sand wegschieben, sondern Spitzhacke, Schüppe, Eimer und Schubkarre. Bei 35 Grad kann das sehr ermüdend sein", berichtet Doktorand Lucas Latzel aus eigener Erfahrung. „Das ist echte Knochenarbeit. Nach vier Wochen lassen die Kräfte nach“, weiß auch Albers. „Im Jahr 2019 haben wir mit zwölf Studierenden und vier Mitarbeitenden etwa 120 Kubikmeter Erde bewegt und eigentlich nur an der Oberfläche gekratzt“, erinnert sich der Wissenschaftler. Alles, was beweglich ist, wandert nach der Funddokumentation zur Restaurierung in das Magazin des Museums von Paestum.
3D-Modellierung und Rekonstruktion der Bauornamentik
Im Anschluss an die Grabungen findet an der RUB die Nachbearbeitung der Funde und, insbesondere, die dreidimensionale Rekonstruktion des gesamten Tempels statt. „Wir rechnen die aufgenommenen Fotos der Bauornamente mittels Structure from Motion in digitale 3D-Modelle um“, erklärt Doktorand Latzel die Dokumentationsmethode, die seit etwa zehn Jahren zum Handwerkszeug von Archäologinnen und Archäologen zählt. Im Hinblick auf die Rekonstruktion von Bauornamenten sei die Methode jedoch noch nicht weit etabliert. Hier versucht das Bochumer Team, die Methode neu zu erproben.
„Die Methode stammt aus der Fotografie und basiert darauf, dass 3D-Modelle aus Bildüberlappung hergestellt werden. Dazu fotografiert man ein Objekt aus einer beliebigen Anzahl an Winkeln. Ein entsprechendes Programm errechnet aus den Fotos dann ein dreidimensionales Abbild des Stücks“, erläutert Latzel. Auf diese Weise ist es möglich, eine nahezu exakte Abbildung der Tempelarchitektur herzustellen, ohne dass man die massigen Steinblöcke mit Kränen bewegen und stapeln muss. Die 3D-Modelle des Tempels sind vor allem deutlich präziser als bisherige Rekonstruktionen, die auf Zeichnungen basieren. „Durch die Nutzung der Digitalisate der Objekte entfällt die interpretative Arbeit des Zeichnens und es können die ungefilterten, originalen Maße und Größenverhältnisse genutzt werden“, hebt Latzel den Vorteil der Methodik hervor. Auch Details der häufig sehr verwitterten Steinreliefs seien dank der Digitalisate erkennbarer. So ließe sich insbesondere der Bildfries im Gebälk, der sogenannte Metopen-Triglyphen-Fries, besser studieren.
Vor allem offenbaren die 3D-Modelle des Bochumer Forschers, dass einige Teile der bisherigen Rekonstruktionen aus Vorgängerstudien fehlerhaft sind und reevaluiert werden müssen. So konnte Latzel beispielsweise bestehende Forschungsannahmen zum Erscheinungsbild und Aufbau des Gebälks widerlegen. Diese Erkenntnis wirkt sich wiederum auf die Datierbarkeit des Tempels aus, denn die Gestaltung der Bauornamentik gibt Aufschluss über das Jahrhundert, in dem der Tempel möglicherweise entstanden ist. So kommen die Bochumer Forscherinnen und Forscher Referenzpunkt um Referenzpunkt dem Rätsel um die Entstehungsgeschichte des Tempels näher. „Wir werden bestimmt noch drei Jahre graben, bis wir genug Material zusammen zu haben, um eine verlässliche Datierung vorzunehmen“, schätzt Albers.