Sozialwissenschaft UWE nimmt Kinder ernst
Das Wohlbefinden von Kindern lässt sich nicht allein an objektiven Kriterien kommunaler Sozialberichterstattung ablesen. Die UWE-Studie fragt direkt.
Wie es nach objektiven Maßstäben um die Bildung und den Wohlstand der Bevölkerung eines Stadtteils bestellt ist, lässt sich an der kleinräumigen Sozialberichterstattung ablesen. „Für das Wohlbefinden von Kindern im entsprechenden Stadtteil ist das aber nur bedingt aussagekräftig“, sagt Prof. Dr. Sören Petermann vom Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung, kurz ZEFIR. Das ZEFIR hat deswegen, gefördert vom Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung, der Bertelsmann Stiftung und dem Ministerium für Schule und Bildung NRW, die Befragung UWE gestartet, kurz für „Umwelt, Wohlbefinden und Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in Kommunen“. Im Kern geht es darum, Kinder als Expertinnen und Experten für ihre eigene Situation ernst zu nehmen und ihr subjektives Wohlbefinden zu erfragen. Weil dahinter nicht nur ein wissenschaftliches Interesse steht, sondern auch der Wunsch, konkrete Verbesserungen für die Kinder anzustoßen, werten die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Ergebnisse bezogen auf einzelne Stadtteile und einzelne Schulen aus. Die Schulen erhalten speziell auf diese Institution bezogene Ergebnisse, Städte eine Übersicht, die nicht schulscharf ist.
Die Befragung als solche orientiert sich an einer kanadischen Studie. Der Fragebogen wurde für deutsche Verhältnisse angepasst und übersetzt. Gefragt wird nach der allgemeinen Lebenszufriedenheit und fünf weiteren Zufriedenheiten in den Bereichen Familie, Freunde, Aussehen, Schule und Schularbeit. „Die Fragen haben wir an die kognitiven Voraussetzungen von Kindern angepasst“, erklärt Sören Petermann. „Wir erfragen zum Thema Lebenszufriedenheit die positiven Stimmungen Optimismus und Selbstwertgefühl, die negativen Stimmungen Traurigkeit und Sorgen sowie das Körperbild.“
Familie, Schule und lokale Gemeinschaft
Weitere Fragen drehen sich um maßgeblich prägende Zusammenhänge, in denen Kinder sich bewegen: Familie, Schule und lokale Gemeinschaft. Wer lebt zusammen? Wie nehmen die Kinder subjektiv ihren Wohlstand wahr? Erhalten sie Unterstützung beim Lernen? Glauben die Eltern an ihren Erfolg? Wann gehen sie schlafen, wie ernähren sie sich? An wie vielen Tagen haben sie zum Beispiel gefrühstückt? Mit Blick auf die Schule fragt UWE unter anderem nach Zugehörigkeitsgefühl, Beziehungen zu Gleichaltrigen, Respekt und Mobbing.
Ziele für nachhaltige Entwicklung
„Die lokale Gemeinschaft außerhalb der Familie, deren Bedeutung mit dem Alter wächst, wurde bisher vernachlässigt“, so Petermann. UWE berücksichtig hier zum Beispiel, ob sich die Kinder im eigenen Viertel bedroht fühlen – das kann auch in vermeintlich sicheren Vierteln mit niedriger Kriminalität so sein.
Die Pilotstudie fand 2017 in Herne statt, später kam Bottrop dazu. Die aktuell ausgewerteten, etwa 45-minütigen Befragungen fanden im Jahr 2019 in den siebten und neunten Klassen beider Städte während der Unterrichtszeit statt und wurden durch geschulte externe Betreuerinnen und Betreuer begleitet. In Herne nahmen eine Hauptschule, vier Realschulen, drei Gesamtschulen und fünf Gymnasien teil. Insgesamt besuchen 2.711 Kinder die entsprechenden Klassen, davon nahmen 1.751 an der Befragung teil. In Bottrop beteiligten sich insgesamt zehn weiterführende Schulen, darunter eine Hauptschule, drei Realschulen, zwei Gesamtschulen, eine Sekundarschule und drei Gymnasien.
Wenig eindeutige Zusammenhänge mit dem Wohnviertel
Es zeigte sich, dass die Gymnasien sich für fast jede der betrachteten Dimensionen eher im oberen Wertebereich befinden, allerdings mit einer Ausnahme: Die Beziehungen zu Erwachsenen wurden unterdurchschnittlich bewertet. Die Gesamtschulen hingegen haben in den meisten anderen Dimensionen vergleichsweise niedrigere Werte, während es bei den anderen Schulformen eine relativ große Streuung gibt: Sowohl die Schule mit dem geringsten als auch die Schule mit dem höchsten Durchschnittswert des Wohlbefindens ist eine der sogenannten anderen Schulformen, also eine Haupt-, Real- oder Sekundarschule. Das gilt auch für Schlaf, Ernährung und subjektiven Wohlstand.
Bezogen auf das Wohnviertel konnten die Forschenden wenige eindeutige Zusammenhänge zum Wohlbefinden erkennen. „Wohlbefinden und stärkende Ressourcen von Kindern und Jugendlichen reihen sich nicht in die Systematik der üblichen kleinräumigen Sozialberichterstattung ein. Die Stadtteiltypen strukturieren das Bild weit weniger stark als die Schulformen“, resümiert Sören Petermann. So war das subjektive Wohlbefinden auch in von Armut geprägten Stadtteilen nicht weniger ausprägt als in wohlhabenderen. Die Forschenden vermuten, dass arme Familien sich möglicherweise besonders anstrengen, damit das Wohlbefinden der Kinder nicht leidet. „Natürlich muss trotzdem eine Prävention gegen Kinderarmut stattfinden, auch wenn sich kaum kleinräumige Unterschiede finden bedeutet das nicht, dass es allen Kindern und Jugendlichen subjektiv gut geht“, so Petermann.
Bei Körperbild und Schulerfahrungen stellte das Forschungsteam eine große Bandbreite unter den Befragten fest. So variiert der Anteil an Kindern, die angeben, von Mobbing betroffen zu sein, bei den Schulen zwischen 17 und 49 Prozent und bei den Stadtteilen zwischen 11 und 43 Prozent.
Jungen geht es besser als Mädchen
Die Forscherinnen und Forscher wollten wissen, womit ein niedriges beziehungsweise hohes Wohlbefinden eigentlich korrespondiert und bezogen in der Auswertung einzelne Faktoren daher nacheinander ein. Durch dieses stufenweise Vorgehen konnten sie den Effekt einzelner Faktoren erkennen.
So stellten sie zum Beispiel fest, dass es Jungen generell besser geht als Mädchen, ein Effekt, der sich mit zunehmendem Alter noch verstärkt. Mehr Erwachsene im eigenen Haushalt gehen mit größerem Wohlbefinden einher. Ernährung, Schlaf und Schulerfahrung haben einen großen Einfluss auf das subjektive Wohlbefinden, gefolgt von Beziehungen zu Erwachsenen und Gleichaltrigen. Ob zum Beispiel Lehrerinnen und Lehrer sowie Schülerinnen und Schüler respektvoll miteinander umgehen, scheint einer der wesentlichen Bausteine zu sein, damit sich Kinder und Jugendliche wohlfühlen. Etwas schwächer ausgeprägt folgen Ernährung und Schlaf, die schulische Selbsteinschätzung, die Qualität der Beziehungen zu Gleichaltrigen und das subjektive Wohlstandserleben. Nimmt man Stadtteiltyp und Schulform mit in die Bewertung hinein, ändert sich nicht viel, denn die zuvor betrachteten Faktoren sind mit diesen eng verbunden.
Tipps für den Alltag
Mit Blick auf ein mögliches Eingreifen wertete das Forschungsteam aus, wem es eigentlich besonders schlecht geht. 18 Prozent der befragten Kinder gaben ein unterdurchschnittliches Wohlbefinden an. 69,7 Prozent von ihnen Mädchen. „Warum sich Mädchen weniger wohlfühlen, sollte weiter erforscht werden“, so Sören Petermann. Die Forschenden vermuten einen Grund darin, dass das Wohlbefinden der Mädchen mit anderen Faktoren verknüpft ist als das der Jungen. Studien besagen zum Beispiel, dass für Mädchen die eigene Begabung und Leistung sowie individuelle Beziehungen in der Schule wichtiger für das Wohlbefinden sind als für Jungen. Auch Kinder von Alleinerziehenden gaben häufiger ein geringes Wohlbefinden an als der Durchschnitt. Einige Gesamtschulen – aber nicht alle – weisen ebenfalls niedrigere Werte aus.
Als Tipps für den Alltag, die für mehr Wohlbefinden sorgen könnten, nennen die Forschenden zum Beispiel eine Kooperation mit einer Bäckerei für ein Frühstücksprogramm, gemeinsame Frühstücks- oder andere Pausen oder ein Tutorensystem an Schulen. Man könnte auch die Sportangebote anpassen oder zielgerichteter darüber informieren, was es alles an Angeboten gibt. „So können auf kommunaler Ebene gezielt lokale Angebote in Familienzentren, Jugendzentren oder in der Jugendarbeit platziert und mit Informationen zu den dort besonders ausgeprägten Problemlagen versorgt werden“, fasst Petermann zusammen.
In UWE sehen die Forschenden weniger eine einmalige Befragung als ein Instrument für ein kontinuierliches Monitoring, das helfen kann, das Wohlbefinden von Kindern durch Maßnahmen in ihrem direkten Umfeld zu verbessern.