Diese Maden gehören zur Latrinenfliege. Sie sind quasi Kriminalbeamte.
© Roberto Schirdewahn

Biologie Wenn Maden einen Mord aufdecken

Auf Spurensuche müssen sich Ermittlerinnen und Ermittler immer noch selbst begeben. Aber wenn sie am Tatort Krabbeltiere finden, können diese ihnen eine große Hilfe sein.

Zuerst kommen die Schmeißfliegen. Wenige Stunden nach dem Tod steuern sie Augen, Nase, Mund und Wunden eines leblosen Körpers an. Hier legen sie ihre Eier ab – und nur wenige Tage später wimmelt es von Leben: Zahlreiche Maden schlüpfen und ernähren sich von dem toten Gewebe, bis sie schließlich zu neuen Fliegen werden. Nicht nur Schmeißfliegen, auch andere Fliegenarten gesellen sich im Lauf der Zeit dazu, und zuletzt kommen noch verschiedene Käfer angekrabbelt. Das rege Treiben, das sich auf Leichen abspielt, kann durchaus aufschlussreich sein – zum Beispiel, wenn man herausfinden möchte, wann und unter welchen Umständen ein Mensch ums Leben gekommen ist.

Mit diesen Fragen kennt Dr. Ersin Karapazarlioglu sich nur zu gut aus. Er forscht in der Fakultät für Biologie und Biotechnologie der RUB in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Wolfgang Kirchner. Bevor er 2020 nach Deutschland kam, arbeitete er 17 Jahre in der Türkei als Kriminalbeamter und als Dozent an der Polizeihochschule und einer Universität. An Tatorten hat er stets auch Ausschau nach Insekten gehalten. Mit ihrer Hilfe konnte er den Todeszeitpunkt einer Leiche teils genauer bestimmen als mit anderen Methoden. Das Verfahren wird als Forensische Entomologie bezeichnet. Die Methode wurde zunächst in den USA etabliert und steckt in Europa noch in den Kinderschuhen.

In den USA etabliert, in Europa fehlen die Daten

Das Wissen aus den USA lässt sich nicht einfach auf Europa übertragen, weil es in verschiedenen geografischen Regionen unterschiedliche Insektenarten gibt und deren Entwicklung von vielen Umweltfaktoren abhängt. Es braucht Forschung vor Ort in Europa, um auch hier mithilfe von Insekten den Todeszeitpunkt einer Leiche bestimmen zu können. Grundlagen dafür möchte Ersin Karapazarlioglu an der RUB schaffen. Im Team von Wolfgang Kirchner forscht er im Rahmen der Philipp Schwartz-Initiative, einer Förderung für gefährdete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ihre Heimat verlassen mussten.

Initiative für gefährdete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

2015 riefen die Alexander von Humboldt-Stiftung und das Auswärtige Amt die Philipp Schwartz-Initiative ins Leben. Sie ermöglicht es Forschenden, die in ihrer Heimat nicht mehr arbeiten können, weil sie bedroht oder verfolgt werden, ihre Arbeit an deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen fortzusetzen. Derzeit forschen drei Fellows im Rahmen des Programms in der Biologie, der Geschichtswissenschaft und der Psychologie an der RUB. Demnächst wird ein weiterer Fellow in der Geographie hinzukommen. Das Scholars at Risk Programm der RUB wird zentral vom International Office der RUB verantwortet. Es umfasst neben der Philipp Schwartz-Initiative unter anderem auch das Scholars at Risk Advocacy Seminar, in welchem sich Studierende im Rahmen von Menschenrechtskampagnen für zu Unrecht inhaftierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit einsetzen.

Ersin Karapazarlioglu arbeitete viele Jahre in der Türkei als Kriminalbeamter. Heute trägt er mit seiner Forschung dazu bei, Methoden zu etablieren, die Kriminalbeamten künftig bei ihrer forensischen Arbeit helfen könnten.
© Roberto Schirdewahn

„Es gibt zwei Methoden, um den Zeitpunkt des Todes mithilfe der Forensischen Entomologie zu bestimmen“, erklärt Ersin Karapazarlioglu. „Entweder betrachtet man das Alter der Maden, die man auf einer Leiche findet, oder man schaut sich die verschiedenen Arten von Insekten am Tatort an.“ Diese beiden Verfahren liefern Erkenntnisse auf unterschiedlichen Zeitskalen. Das Madenalter verrät den Todeszeitpunkt einige Tage bis wenige Wochen nach dem Versterben; die Insektenzusammensetzung kann auch noch Monate nach dem Tod zurate gezogen werden.

Dahinter steckt Folgendes: Bestimmte Fliegenarten legen schon ein bis zwei Stunden nach dem Tod ihre Eier in das Gewebe einer Leiche. Einige Tage später schlüpfen Maden, die von Tag zu Tag größer werden. Findet man an einem Tatort also eine Made in einem bestimmten Entwicklungsstadium, kann man zurückschließen, wie viele Tage sie alt ist und somit wann die Eier gelegt wurden – das entspricht dann auch ungefähr dem Zeitpunkt des Todes.

Diese Methode funktioniert etwa einen Monat lang; dann haben sich die Maden in Fliegen verwandelt, und ein anderes Verfahren muss her. Hier helfen Spezies, die sich nicht ganz so schnell am Tatort einfinden wie die Fliegen, etwa diverse Käfer, die erst in einem späteren Verwesungsstadium auftauchen. Das Vorkommen bestimmter Arten am Tatort hilft Ermittlerinnen und Ermittlern abzuschätzen, wie viele Wochen oder Monate der Tod zurückliegt.

Umwelteinflüsse entscheidend

„Beide Methoden hängen aber stark von Umwelteinflüssen ab“, sagt Karapazarlioglu. Die Temperatur bestimmt etwa maßgeblich mit, wie schnell der Entwicklungszyklus einer Spezies vonstattengeht. Auch die Zusammensetzung der Erde oder die Feuchtigkeit haben einen Einfluss. Hinzu kommt, dass auf dem Land andere Insektenspezies vorkommen als in der Stadt – für Kriminalbeamtinnen und -beamte gilt es also, viele Hintergrundinformationen mit einzubeziehen.

Nach einem Mord werden Leichen häufig vergraben, um die Spuren der Tat zu vertuschen, allerdings nicht besonders tief.


Ersin Karapazarlioglu

Ersin Karapazarlioglu erforscht aktuell, welche Insektenarten in Deutschland im Verlauf der Jahreszeiten am Verwesungsprozess beteiligt sind – und ob es einen Unterschied macht, wie tief in der Erde vergraben ein Körper liegt. „Nach einem Mord werden Leichen häufig vergraben, um die Spuren der Tat zu vertuschen, allerdings nicht besonders tief“, sagt er. Daher kann der Verwesungsprozess ein anderer sein als tief unter der Erde – untersucht wurde das bislang allerdings kaum.

Ein selbst konstruiertes Beobachtungsgrab

Um die Effekte des oberflächlichen Verscharrens zu untersuchen, hat Ersin Karapazarlioglu ein spezielles Beobachtungsgrab konstruiert. Es ist an einer Seite mit einer Plexiglasscheibe verschlossen, sodass man ins Innere sehen kann. An acht Stellen sind zudem Vorrichtungen angebracht, mit denen der Forscher Proben der Erde und der enthaltenen Organismen nehmen kann. In dem Grab ist seit mehreren Monaten ein Schaf vergraben, das von einem Schlachthof stammt.

In der forensischen Entomologie werden Schafe und Schweine als Modellorganismen genutzt, weil sie ein vergleichbares Körpergewicht wie Menschen haben und bei ihnen auch die Verwesungsprozesse sehr ähnlich ablaufen. Vor dem Vergraben werden die Schafe rasiert, um auch die Beschaffenheit der Haut der des Menschen anzugleichen.

„Die Idee des Beobachtungsgrabes ist, Zugang zu dem Tier zu haben, ohne den Verwesungsprozess zu stören“, erklärt Karapazarlioglu seine Konstruktion. Ein weiteres Schaf hat er zum Vergleich nicht vergraben, sondern der Verwesung und dem Befall mit Insekten an der Oberfläche ausgesetzt. Alle ein bis zwei Tage nimmt Ersin Karapazarlioglu von beiden Kadavern Proben und vergleicht die Insektenzusammensetzungen. Dazu muss er die kleinen Tiere unter dem Mikroskop bestimmen – denn unterschiedliche Spezies lassen sich oft nur anhand von winzigen Details unterscheiden.

„Die Ergebnisse zeigen, dass das Begraben eine Rolle für den Verwesungsprozess und die Insektenbesiedlung spielt“, resümiert der Forscher. „An einem Kadaver, der der Verwesung und der Insektenbesiedlung an der Oberfläche ausgesetzt ist, haben wir andere Insektenspezies gefunden als an dem vergrabenen Kadaver.“ Die Anzahl der besiedelnden Insekten war an der Oberfläche deutlich größer als in der Tiefe. Außerdem verliefen die Abbauprozesse an der Oberfläche wesentlich rascher – zehn Tage dauerte es hier, um das Verwesungsstadium zu erreichen, das in der Tiefe erst nach 180
Tagen eintrat.

Insektenpopulationen im Jahreszeitenverlauf

Für eine zweite Studie hat Ersin Karapazarlioglu im Sommer 2021 ein weiteres Schaf vergraben, das einmal pro Monat exhumiert wird; sechsmal hat er den Körper bereits freigelegt. Jedes Mal dokumentiert er den Verwesungsstatus des Tieres und analysiert die Insektenaktivität. Im Verlauf der Monate zeigen sich deutliche Unterschiede: Aufgrund der wärmeren Temperaturen finden sich im Sommer zahlreiche Insekten in dem Grab, im Winter nimmt die Aktivität deutlich ab.

Das vergrabene Tier wird regelmäßig exhumiert.
© Roberto Schirdewahn

„Bislang gibt es nur wenige Studien zur Insektenfauna an vergrabenen Leichen in Europa“, weiß Karapazarlioglu. „Daher erhoffen wir uns von diesen Experimenten wertvolle Daten für Morduntersuchungen.“

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Veröffentlicht

Dienstag
29. März 2022
10:25 Uhr

Dieser Artikel ist am 2. Mai 2022 in Rubin 1/2022 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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