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Ein Verbrechen, aber erst im Nachhinein
Im historischen Rückblick auf die Geschichte der Menschheit fällt die Auswahl des Verbrechens mit der größten Reichweite nicht leicht. In Deutschland denken wir meist an den Holocaust, der sich auch international als Maßstab des ultimativen Menschheitsverbrechens etabliert hat. Daneben stehen die Ermordung der Sinti und Roma sowie von Millionen von Menschen vor allem aus Osteuropa im Zweiten Weltkrieg. Seit einiger Zeit wird auch der Völkermord an den Nama und Herero unter deutscher Kolonialherrschaft in Südwestafrika stärker beachtet. Wenn wir schließlich den Blick global ausweiten, so lässt sich diese Liste des Schreckens beliebig verlängern. Die jeweilige Auswahl ist vor allem daran geknüpft, in welcher Weise die Ereignisse unser Selbstverständnis betreffen.
Die eigene Opferrolle wird betont
In Öffentlichkeit und Politik wird oft eine Hierarchie solcher Verbrechen aufgestellt, denn daran ist auch die Identität von Nationen oder Gruppen geknüpft: Die eigene Opferrolle wird oftmals betont, die eigene Täterrolle verringert. Die Geschichtswissenschaft sollte dagegen keine derartigen Rangordnungen aufstellen, sondern Tatsachen etablieren und deren Genese im historischen Kontext erklären. Sie muss aber auch erklären, wie sich die Grenzziehung zwischen erlaubtem und verbotenem Handeln überhaupt verändert hat. Denn einerseits beziehen wir uns auf Ereignisse, die heute als Verbrechen – etwa als Genozid – gelten würden, die aber zu ihrer Zeit nicht als solches angesehen wurden. Dazu zählt etwa die Auslöschung zahlreicher Menschengruppen im Kontext der europäischen kolonialen Expansion. Andererseits geht es um Ereignisse, die juristisch weiterhin nicht als Verbrechen angesehen werden, so etwa das massenhafte Töten von Zivilisten in als legitim erachteten Kriegen. Und der israelische Historiker Yuval Noah Harari zählt etwa die industrielle Massentierhaltung zu einem der größten Verbrechen der Menschheit. Der Blick auf die Geschichte mahnt also zur Bescheidenheit – vielleicht werden ja künftige Generationen uns zu Verbrechern erklären.