Serie Mehr als dicke Bücher
Verändert die Betrachtung von Kunst unseren Blick auf die Welt?
© RUB, Marquard

Philosophie Ein Gesicht wie Zippora

Wie Kunstwerke unsere Wahrnehmung des Alltäglichen beeinflussen können.

Eine zerdrückte Bierdose am Straßenrand, ein herumstreunender Hund, das Gesicht eines Freundes – alltägliche Momentaufnahmen, die einen plötzlich an Gemälde von Picasso oder Botticelli denken lassen? Dr. Alfredo Vernazzani vom Institut für Philosophie II der Ruhr-Universität nennt diesen Effekt „Art to World“. In der Fachzeitschrift „Phenomenology and the Cognitive Sciences“ vertritt der Philosoph die These, dass Kunstwerke unsere Wahrnehmung beeinflussen und verändern können.

„Mein Ausgangspunkt sind die Behauptungen zahlreicher Künstlerinnen und Künstler, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die über die Jahrhunderte anmerkten, dass sich unser Blick auf die Welt ändert, wenn wir uns intensiv mit Kunst auseinandersetzen“, erklärt Vernazzani. So heißt es beispielsweise im Band „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ des französischen Autors Marcel Proust, dass sich der Protagonist Charles Swann in Odette verliebte, als er die Ähnlichkeit ihres Gesichtes mit dem der Zippora-Darstellung Botticellis auf einer der Fresken der Sixtinischen Kapelle bemerkte.

Experimente zur Aufmerksamkeit

Doch (wie) lässt sich diese Beobachtung wissenschaftlich untermauern? „Auch wenn es zunächst wie Zauberei wirkt, argumentiere ich, dass diesem Effekt etwas ganz Konkretes, Kognitives zu Grunde liegt“, so Vernazzani. Um das zu erläutern, greift der Wissenschaftler auf die Forschungsergebnisse aus den Bereichen der Wahrnehmungspsychologie und Wahrnehmungsphilosophie zurück. „Ein wichtiger Bestandteil unserer Wahrnehmung ist die Aufmerksamkeit“, erklärt der Philosoph. Die kognitiven Ressourcen unserer Gehirne sind begrenzt. „Wir können also nicht alles aus der Umwelt, zum Beispiel visuelle Informationen, gleich verarbeiten. Experimente, wie das berühmte Gorilla-Experiment belegen das.“

Die Gorilla-Studie

In besagter Studie der Psychologen Christopher Chabris und Daniel Simons mischt sich ein Mensch im zotteligen Gorilla-Kostüm unter sechs Basketballspieler. Die Probanden sollten das Basketballspiel beobachten. Dabei übersahen einige den Affen, weil ihre Aufmerksamkeit auf das Spiel gerichtet war. Diese Form der Blindheit, die sogenannte „Unaufmerksamkeitsblindheit“ trifft auf viele Menschen zu.

Ein weiteres Experiment aus der Wahrnehmungspsychologie konnte zeigen, dass ausgebildete Kunstexpertinnen und Kunstexperten beim Anblick eines Personenporträts ihre Aufmerksamkeit auf völlig andere Details richteten als Kunstlaien. Letztere nahmen vor allem Gesicht und Hände als zentrale Merkmale in den Blick; Kunstexpertinnen und Experten achteten vielmehr auf die Ausrichtung und Komposition des Porträts.

Die Ästhetik des Alltags erfahren

Eine besondere Aufmerksamkeit gegenüber Kunst, da sind sich Forschende der Philosophie und Psychologie einig, scheint also Auswirkungen auf unsere Betrachtungsweisen zu haben – auch auf die unseres Alltags, meint Vernazzani. „Wenn wir versuchen, Kunstwerke besser zu versehen, dann sind wir besser im Stande, ästhetische Eigenschaften, Ausdrucksformen, Designelemente im Alltag zu bemerken. Das ändert unsere Sichtweise und unsere Einstellung zum Leben“, so der Philosoph.

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Wie kann man seinen Blick schulen? „Ich betrachte also ein Gemälde intensiv und richte meine Aufmerksamkeit auf verschiedene Eigenschaften des Gemäldes: Was möchte das Gemälde zum Ausdruck bringen? Warum hat sich der Maler für diese Farbe entschieden, diese Form und Gestaltung gewählt?“, beschreibt Vernazzani. Er ist überzeugt: „Wenn man wirklich versucht, all das zu verstehen, dann entdeckt man mit der Zeit auch die ästhetische Dimension in den kleinen Dingen des Alltags, in Raumdekorationen, Kleidungsstücken, Lebensmitteln.“ Mit Ästhetik sei dabei nicht nur das Schöne, Erhabene, Harmonische gemeint, betont Vernazzani.

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Vernazzani kennt den „Art to World“-Effekt übrigens auch aus eigener Erfahrung. Neulich erst lief ihm ein Hund entgegen, der entschieden dem glich, den der Künstler Giacomo Balla im Jahr 1912 malte.

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Veröffentlicht

Donnerstag
07. April 2022
09:21 Uhr

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