Sozialwissenschaft Arbeit on Demand
Digitale Technologien haben eine neue Arbeitsmarktform hervorgebracht. Auf Plattformen werden Arbeitgeber und -nehmer für Einzelaufträge zusammengebracht. Ein rasant wachsender Markt, der noch viele Fragezeichen aufgibt.
Das Angebot im Internet scheint grenzenlos: ein Streamingdienst, auf dem man Serien und Filme schauen kann, wann man möchte. Ein Lieferservice, der verschiedene Restaurants bedient. Oder ein Online-Shop, auf dem unterschiedlichste Verkäuferinnen und Verkäufer ihre Waren anpreisen. Es gibt Plattformen für alles Mögliche. Auch Jobs werden auf diese Weise gehandelt: Unternehmen oder Privatpersonen stellen Aufträge auf einer Plattform ein, die von Arbeitswilligen durchsucht werden können. Aber wie sieht es eigentlich mit der sozialen Absicherung aus, wenn man auf diese Weise Geld verdient? Die Frage treibt Dr. Fabian Beckmann um. Er forscht am Lehrstuhl Soziologie/Arbeit, Wirtschaft und Wohlfahrt der RUB.
Herr Dr. Beckmann, die Plattformarbeit ist ein wachsender Markt. Für welche Jobs ist solch ein Modell interessant?
Es gibt eine große Bandbreite an Plattformen, die sich etabliert haben und die auch umkämpft sind. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen Mikro- und Makro-Tätigkeiten. Ersteres wird auch als Clickwork bezeichnet. Das sind häufig hochrepetitive Tätigkeiten, zum Beispiel Bilder beschriften oder Datensätze klassifizieren, mit denen eine Künstliche Intelligenz trainiert werden soll. Makro-Tätigkeiten hingegen sind nicht selten ganze Projekte, die mehrere Wochen dauern können: Softwareentwicklung, Unternehmensberatung oder Designprojekte zum Beispiel. Solche Aufträge können durchaus lukrativ sein.
Was verdient man denn damit?
Mit Clickwork verdient man nur wenige Cent pro Klick, das rentiert sich nur in Summe. Mit Makro-Tätigkeiten können Leute aber durchaus vier- bis fünfstellige Beträge im Monat verdienen. Wir wissen aber, dass Plattformarbeitende im Durchschnitt lediglich einen niedrigen dreistelligen Betrag im Monat erwirtschaften.
Das kann dann nicht die einzige Einkommensquelle sein.
Genau, in der Mehrheit der Fälle ist Plattformarbeit derzeit ein Zuverdienst. Die Studien sind nicht eindeutig, aber EU-weit betreiben vermutlich zwei Drittel die Plattformarbeit neben einer anderen Tätigkeit oder neben Studium oder Schule. Nur eine Minderheit erzielt damit mehr als 50 Prozent des Einkommens.
Seit wann gibt es diese Erwerbsform eigentlich?
Die Anfänge liegen in der Sharing-Economy, die 2007/2008 entstand. Damals kam zum Beispiel die Idee auf, dass man seine Wohnung untervermieten kann, wenn man selbst im Urlaub ist und sie nicht braucht. Der Sharing-Gedanke war anfangs losgelöst von kommerziellen Interessen, was sich schnell gewandelt hat, als die Leute gemerkt haben, dass sie damit Geld verdienen können. Eine größere Dynamik ist in den vergangenen fünf, sechs Jahren in den Plattformmarkt gekommen. Zwischen 2016 und 2021 haben digitale Arbeitsplattformen in der Europäischen Union 500 Prozent Umsatzsteigerungen verzeichnet. Es ist ein stark wachsender Markt.
Weiß man, wie viele Menschen auf diesem Markt tätig sind?
Nicht genau, weil die Leute in keiner offiziellen Arbeitsmarktstatistik aufgeführt werden. Es gibt verschiedene Erhebungen, die die Anzahl der Plattformarbeitenden basierend auf Zufallsstichproben hochgerechnet haben. Für Deutschland geht man davon aus, dass zwischen 500.000 und 1,6 Millionen Menschen regelmäßig Plattformarbeit leisten. Eine andere Studie hat gezeigt, dass 5,6 Millionen Menschen in Deutschland bereits einmal Erfahrung damit gemacht haben. EU-weit verdienen schätzungsweise 28 Millionen Menschen Geld mit Plattformarbeit. Im Vergleich zum analogen Arbeitsmarkt ist es also nach wie vor eine Nische, die aber schnell wächst. Zumindest sind in der EU bereits mehr Menschen mit Plattformarbeit beschäftigt, als es Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer gibt.
Es gibt wenig Regulierung, keine Tarifbindung und keine Gewerkschaften oder Betriebsräte.
Wie unterscheidet sich der Plattformarbeitsmarkt vom konventionellen Arbeitsmarkt?
Oft gibt es keine örtliche Anbindung, also keinen Betrieb oder ein Unternehmen, in dem Menschen arbeiten. Sie kommen nicht zusammen, es gibt auch wenig Regulierung, keine Tarifbindung und keine Gewerkschaften oder Betriebsräte. An die Stelle von diesen fehlenden Regulierungen treten neue Formen von digitalen Technologien, die die dortige Arbeit strukturieren. Plattformbetreiber beteuern oft, sie würden nur eine digitale Infrastruktur bereitstellen. Allerdings steuern die meisten Plattformen sehr genau, wie Angebot und Nachfrage zusammenkommen, beispielsweise über den Preis, Rankingsysteme oder Algorithmen, die bestimmen, wer welchen Arbeitsauftrag angezeigt bekommt.
Ist das denn ein Problem?
Es gibt keine langfristige Bindung zwischen einem Arbeitgeber und einem Arbeitnehmer, also auch keinen Arbeitsvertrag, sondern nur kurzfristige Kontraktbeziehungen für die Zeit, in der der Auftrag erledigt wird. Neun von zehn Gigs – so werden die Aufträge auf den Plattformen genannt – werden in der EU auf Basis selbstständiger Beschäftigung erledigt. Hier entstehen Probleme im Hinblick auf die soziale Sicherung, weil für diese schlicht niemand zuständig ist. Die Auftraggeber fühlen sich nicht verantwortlich und die Plattformen vertreten die Position, dass sie keine Arbeitgeber sind.
Wir wissen seit Langem, dass vor allem solo-selbstständige Beschäftigte häufig nur eine prekäre soziale Absicherung haben.
Haben denn nicht alle Selbstständigen damit zu kämpfen?
Wir wissen seit Langem, dass vor allem solo-selbstständige Beschäftigte häufig nur eine prekäre soziale Absicherung haben. Bei der Plattformarbeit gibt es aber noch ein paar Besonderheiten. Es gibt einen niedrigschwelligen Zugang: Man muss kein Gewerbe anmelden, sondern geht nur auf eine Webseite, erstellt einen Account, stimmt den AGB zu und konkurriert um Gigs. Schon kann man selbstständig Geld erwerben. Allerdings kann man aus sozialrechtlicher Sicht fragen, wie selbstständig oder wie unabhängig diese Tätigkeiten eigentlich sind.
Inwiefern?
Wenn wir von selbstständiger Beschäftigung sprechen, gehen wir davon aus, dass man selbstständig über Aufträge entscheiden kann. Plattformen agieren aber als Marktorganisatoren – und das in ihrem eigenen Interesse. Das algorithmische Management ist häufig intransparent. Es ist zwar eine selbstständige Form des Gelderwerbs, aber es gibt vielfältige Abhängigkeiten. Die Arbeitenden sind ökonomisch abhängig von der Plattform und der technologischen Infrastruktur. Wenn man ein gutes Profil mit einer guten Sternebewertung hat und die Plattform wechseln möchte, hat man ein Problem, weil man das Profil nicht zu anderen Plattformen transferieren kann. Die Plattformen sind also nicht nur zwischengeschaltete Vermittler. Sie greifen durchaus strukturierend ein.
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Wenn es um Sozialversicherungsfragen geht, welches Recht greift dann eigentlich? Die Plattformen agieren schließlich über Ländergrenzen hinweg.
Darüber gibt es in der Literatur eine große Debatte. Es kann sein, dass es eine Plattform mit Sitz in Australien gibt, einen Plattformarbeitenden in Indien und einen Auftraggeber in Frankreich. Es ist unklar, welches nationale Sozialversicherungsrecht dann greift. Überspitzt gesagt ist das derzeit wie im Wilden Westen. Es gibt keine feststehenden Regulierungen für diesen digitalen, transnationalen Arbeitsmarkt.
Solche Sozialversicherungssysteme wie in Deutschland halten nur ein begrenztes Maß an selbstständiger Beschäftigung aus.
Das klingt, als sei noch vieles in Bezug auf Plattformarbeit unbekannt. Ist überhaupt schon klar, dass es ein Problem mit sozialer Absicherung gibt?
Die Datenlage ist bislang schlecht. Aber der Vertragsstatus, mit dem Plattformarbeit geleistet wird, kollidiert mit unserem sozialen Sicherungssystem. In der Pandemie haben wir gesehen, dass Minijobbende und Selbstständige durch das institutionelle Sicherungsnetz gefallen sind, weil sie nicht in die Sozialversicherung einzahlen. In Deutschland haben wir einen Sozialversicherungsstaat, in den aber nicht alle integriert sind. Es ist ein selektives System, das stark auf abhängig Beschäftigte ausgerichtet ist. Wenn man selbstständig ist und nicht in ein Sondersystem wie die Künstlersozialkasse oder Ähnliches fällt, ist man in der Regel selbst für die soziale Absicherung zuständig.
Solche Sozialversicherungssysteme wie in Deutschland halten nur ein begrenztes Maß an selbstständiger Beschäftigung aus. Nicht nur im Hinblick auf die Frage, wie die Individuen abgesichert sind, sondern auch im Hinblick auf die Frage der Finanzierbarkeit der Sozialversicherungen. Die Rentenversicherung funktioniert eigentlich schon seit 40 Jahren nicht mehr so, wie es ursprünglich gedacht war, beispielsweise weil sich Erwerbsverläufe, Erwerbsformen und die Demografie wandeln. Diese Herausforderungen potenzieren sich mit neuen digitalen Erwerbsformen. Es bleibt abzuwarten, wie politisch hierauf reagiert wird.