Ausgangspunkt des Forschungsprojekts von Stefan Laser waren Rechenzentren in Deutschland. Er und seine Kolleginnen und Kollegen analysierten deren Komponenten und wie sie mit verschiedenen Orten in der Welt zusammenhängen. Chips spielen dabei eine zentrale Rolle. © RUB, Marquard

Sozialwissenschaft Von der Chip-Fabrik ins Nagelstudio

Der Boom der Chip-Industrie ermöglicht in Vietnam Karrieren, die auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen. Schaut man genauer auf die Entwicklungen, tun sich jede Menge Widersprüche auf.

Tempel, Strände, Reisfelder – diese Assoziationen dürften viele haben, wenn sie an Vietnam denken. Aber die Reisfelder werden weniger. Sie müssen weichen, um Platz für Neues zu schaffen. Denn Vietnam hat einen Plan: Das asiatische Land strebt danach, ein großer Player in der Chip-Industrie zu werden. Durch die Corona-Pandemie und politische Spannungen zwischen China und den USA ist Bewegung in die Branche gekommen. „Die Corona-Maßnahmen haben einige Schluckauf-Beschwerden in den Fertigungsketten verursacht, die dem Westen gezeigt haben, wie abhängig er derzeit von China ist“, sagt Dr. Stefan Laser, Sozialwissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum. „Es gibt also durchaus ein politisches Interesse, dass die Chip-Branche auch in anderen Ländern Fuß fasst.“

Vietnam möchte langfristig das neue Taiwan werden.


Stefan Laser

Im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Virtuelle Lebenswelten“ erforscht Laser zusammen mit Kolleginnen und Kollegen die Dynamiken in den Wertschöpfungsketten der IT- und Chipindustrie. Taiwan ist derzeit deren Dreh- und Angelpunkt. „90 Prozent der schnellen Chips werden dort gefertigt“, weiß Stefan Laser. „Auch im unteren Segment der Wertschöpfungskette produziert Taiwan immer noch 50 Prozent der Ware.“ Wenn es nach dem Willen der vietnamesischen Regierung geht, wird es aber nicht so bleiben. „Vietnam möchte langfristig das neue Taiwan werden“, bringt Laser es auf den Punkt. Weil es als politisch stabil gilt und strategisch günstig am Meer gelegen ist, hat auch der Westen ein Interesse daran, dass Vietnam in der Chip-Industrie erstarkt.

Virtuelle Informationsstrukturen

Die in diesem Artikel beschriebenen Forschungsergebnisse werden im Teilprojekt „Virtuelle Informationsstrukturen“ des Sonderforschungsbereichs behandelt. Durch digitale Praktiken stehen User in Verbindung mit den Wertschöpfungsketten, so die These. Die alltägliche wissenschaftliche Forschung in Deutschland ist etwa zunehmend vermittelt durch High-Tech-Rechenzentren, wachsenden Speicherplatz und Rechenaufgaben wie Simulationen oder maschinelles Lernen. Die aufwändigen Speicher- und Rechenleistungen müssen hergestellt und langfristig verfügbar gemacht werden. Das führt die Forschenden zur Chip-Industrie. Rechenzentren weltweit, etwa im deutschen Universitätsbetrieb, sind global vernetzt. Die Herausforderung für die Forschenden lautet, diese Verbindungen explizit und diskutierbar zu machen.

Feldforschung in Vietnam

Der Weg zu diesem Ziel ist allerdings nicht so klar vorgezeichnet, wie es die Politik teils darstellt. Viele Kontroversen ranken sich rund um den Chip-Boom in Vietnam, wie Stefan Lasers Arbeit sichtbar macht. Dabei hilft ihm, dass er intensiv vor Ort in dem südostasiatischen Land forschen kann. So kann er aus nächster Nähe erfahren, was Menschen über den Chip-Rausch denken. Laser sichtet die Medien, spricht mit Journalistinnen und Journalisten, besucht Industriemessen, um Kontakte in die Chip-Industrie zu knüpfen, und verfolgt Änderungen in den Gesetzen, die die Rahmenbedingungen für die Branche vorgeben.

Dr. Stefan Laser ist Sozialwissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum und forscht im Sonderforschungsbereich „Virtuelle Lebenswelten“. © Privat
Stefan Laser ist Sozialwissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum und forscht im Sonderforschungsbereich „Virtuelle Lebenswelten“.

Nicht immer ist diese Art der Forschung leicht zu realisieren. „Vietnam ist nicht demokratisch, es gibt kein Recht auf freie Meinungsäußerung, keine Pressefreiheit“, stellt Stefan Laser klar. Er kann offiziell keine Interviews führen und muss bei der Kommunikation mit den Menschen sehr vorsichtig sein. „Oft muss man zwischen den Zeilen lesen“, sagt er. „Das, was gesagt wird, kann man nicht immer wörtlich nehmen, sondern es muss gedeutet werden. Dabei kann man natürlich auch mal falsch liegen. Unsere Forschung soll vor allem dazu anregen, über die Gegensätze nachzudenken, die sich in Vietnam auftun.“

Fehlende Energiesicherheit als Problem

Klar ist, dass viele Hoffnungen und auch viele Investitionen mit der Chip-Industrie in Vietnam verbunden sind. „Aber es gibt auch Zweifel, wie tragfähig das Ganze wirklich ist“, sagt Laser und zeigt ein Beispiel auf: 2023 reiste US-Präsident Joe Biden nach Vietnam, um eine strategische Partnerschaft mit dem Land zu vereinbaren. „Er hatte eine ganze Entourage von Industrievertretern dabei“, erzählt Laser. „Das Unternehmen Intel kündigte anschließend an, ein zweites großes Werk im Land zu bauen – und sprang kurze Zeit später doch wieder ab.“ Warum, wurde zwar nicht öffentlich geäußert. Medien recherchierten jedoch zu dem Thema und machten die fehlende Energiesicherheit als Grund aus.

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Derzeit machen erneuerbare Energien einen geringen Anteil am vietnamesischen Energiemix aus. „Die Unternehmen der Chip-Branche unterliegen aber gewissen Klimaverpflichtungen, sodass der Anteil steigen muss, wenn sie in Vietnam investieren sollen“, erklärt Stefan Laser. Allerdings sei in Vietnam keine ausreichende Netzstabilität gegeben; Stromausfälle würden durch mehr erneuerbare Energien wahrscheinlicher werden, da Wind und Sonne nicht konstant vorhanden sind. „Wenn nicht ausreichend Energie vorhanden ist, können in Vietnam Unternehmen vom Netz genommen werden“, weiß Stefan Laser. „Es ist ein kommunistisches Land, das Unternehmen und Privathaushalte gleichbehandelt.“

Fachkräftemangel und Umweltprobleme

Kontroversen findet Stefan Laser nicht nur im Hinblick auf die Energiesicherheit, sondern auch an vielen anderen Stellen. So plant Vietnam beispielsweise, 50.000 neue Ingenieurinnen und Ingenieure auszubilden und einzustellen. Sie sollen sicherstellen, dass das Land künftig auch am oberen Ende der Wertschöpfungskette mitmischen kann, etwa beim Chip-Design. Ob es gelingen wird, so viele neue Fachkräfte in den Arbeitsmarkt zu bringen, bezweifeln einige. „Es gibt Sorge vor brain drain“, sagt Stefan Laser. „Fachkräfte könnten sich zwar in Vietnam ausbilden lassen, dann aber nach Taiwan oder Südkorea abwandern – gerade letzteres ist bei den Vietnamesen sehr beliebt, weil ihnen die Kultur gefällt.“ Solchen Befürchtungen versucht Vietnams Führung mit Patriotismus entgegenzuwirken.

Reisfelder sind typisch für vietnamesische Landschaften. Für die Chip-Industrie wurden einige von ihnen bereits zu Bauland umfunktioniert. © Stefan Laser

Kritisch sehen manche auch die Umweltsituation. Zwar hat Vietnam juristisch betrachtet ausreichende Umweltstandards, aber oft fehlt es an den Ressourcen, um die Gesetze in der Praxis zu implementieren. „Die Chip-Industrie gilt eigentlich als sauber“, erklärt Laser. „Aber es gibt auch Hinweise darauf, dass es unter den Mitarbeiterinnen in den Chip-Fabriken vermehrt zu Schwangerschaftskomplikationen kommt, was an den dort eingesetzten Chemikalien liegen könnte.“

Sprungbrett in die Beauty-Branche

Während solche Umwelteinflüsse im Verborgenen wirken, sind andere offensichtlich. Reisfelder werden umgewälzt und zu Bauland für die Industrie. „Interessant ist aber auch, was sich drumherum noch alles ansiedelt“, so der Bochumer Forscher. Anhand von Karten illustriert Stefan Laser mit dem Kooperationspartner „Hanoi Ad Hoc“, einem forschungsorientierten Architekturbüro, wie sich Landschaften im Lauf der Zeit wandeln: vom Reisfeld zur Baugrube hin zu den weißen Dächern der Industriegebäude, bis schließlich auch immer mehr rote Dächer von Wohngebäuden hinzukommen. Dabei dreht sich in solchen Regionen längst nicht nur alles um die Chip-Industrie.

Es bildet sich ein interessantes Ökosystem rund um die Chip-Fabrik, das fast schon grotesk anmutet.


Stefan Laser

„Im Umfeld der Chip-Fabriken siedeln sich auch Sekundärindustrien an, mit denen man im ersten Moment nicht rechnen würde“, weiß Laser. Konkret spricht er von Fortbildungseinrichtungen, in denen man lernen kann, wie man einen Beauty-Salon eröffnet. „Einige Unternehmen wie Samsung wollen fitte junge Mitarbeiterinnen haben“, erklärt der Sozialwissenschaftler. „Nach fünf Jahren will man die Arbeitskräfte wieder loswerden. Die Frauen wissen das und bilden sich neben ihrer Arbeit in der Chip-Fabrik am Wochenende fort.“ So eignen sich viele das Know-how an, wie man ein Nagelstudio oder einen Schönheitssalon eröffnet, womit die Frauen später oft mehr Geld verdienen als mit der Arbeit im Werk. „Es bildet sich ein interessantes Ökosystem rund um die Chip-Fabrik, das fast schon grotesk anmutet“, so der Sozialwissenschaftler. „Genau diese Verbindungen aufzuzeigen und sichtbar zu machen, wie sich Kulturen und Räume verändern, ist das, was die Sozialwissenschaft leisten kann“, resümiert Stefan Laser. „In Vietnam hängt zwar nicht alles mit allem zusammen, aber einiges mit vielem.“

Stefan Laser und das Team von „Hanoi Ad Hoc“ visualisieren die Widersprüche und Veränderungen in Vietnam mit sogenannten Maps of Controversy. Diese Aufnahme zum Beispiel, wie sich ein Chiphersteller (SEV) und seine Lieferanten inmitten der landwirtschaftlich genutzten Felder angesiedelt haben. © Stefan Laser, Hanoi Ad Hoc

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Veröffentlicht

Mittwoch
08. Mai 2024
09:19 Uhr

Dieser Artikel ist am 3. Juni 2024 in Rubin 1/2024 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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