Geowissenschaft Wo der Boden zugepflastert ist
Straßen, Wohnbausiedlungen und Industrie versiegeln viele Flächen in NRW. Auf Luftbildern ist das leicht zu sehen – aber dennoch mühsam auszuwerten. Daher haben Bochumer Forschende eine Helferin angelernt.
Es war ein Bild, das um die Welt ging: das Fußball-EM-Achtelfinale zwischen Deutschland und Dänemark, jäh unterbrochen von einem heftigen Sommergewitter. Aus einer schwarzen Wolkenwand prasseln Regenmassen, die vom Stadiondach wie ein Wasserfall auf die Tribüne stürzen. Während gut gelaunte dänische Fans eine Dusche nehmen, versuchen Ordner das Wasser mit Schrubbern zu bändigen und in einen Gulli zu schaufeln. Das Beispiel zeigt in kleinem Maßstab, was in Städten vielerorts zu einem ernsthaften Problem geworden ist: die zunehmende Versiegelung von Flächen. Wo der Boden mit Verkehrswegen und Gebäuden zugepflastert wird, kann Wasser genauso wenig versickern wie auf der Tribüne des Dortmunder Stadions. So können Straßen bei Starkregenereignissen zu reißenden Flüssen werden.
Um das Problem einzudämmen, hat die Bundesregierung im Rahmen der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie beschlossen, die Versiegelung von Flächen zu begrenzen. Zwischen 2017 und 2020 wurden bundesweit jeden Tag rund 54 Hektar Freifläche für den Bau neuer Verkehrswege und Siedlungen in Anspruch genommen. Das Ziel ist, diesen Wert bis 2030 auf unter 30 Hektar pro Tag zu reduzieren. Auch Nordrhein-Westfalen muss dazu seinen Beitrag leisten. Aber wie versiegelt ist das bevölkerungsreichste Bundesland derzeit? Und wie kann man die Versiegelung kontinuierlich erfassen? Diese Fragen kann ein Team aus der Geowissenschaft der Ruhr-Universität Bochum beantworten.
Versiegelung mit Künstlicher Intelligenz erkennen
Finanziert vom Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz NRW hat Jan-Philipp Langenkamp unter der Leitung von Prof. Dr. Andreas Rienow ein Modell entwickelt, das mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) versiegelte Flächen auf Luftbildaufnahmen identifizieren kann.
Bislang wurde die Versiegelung in NRW anhand der Liegenschaftskataster der 53 Katasterbehörden ermittelt. Darin ist festgehalten, welche Flächen wie genutzt werden. Allerdings tauchen nicht alle versiegelten Flächen darin auf: „Kleinere Gebäude wie Gartenhäuser, für die man keine Baugenehmigung braucht, werden zum Beispiel nicht erfasst“, weiß Andreas Rienow. Solche vermeintlich kleinen Abweichungen von der Realität summieren sich auf. Um den Anteil der versiegelten Flächen basierend auf dem Kataster zu bestimmen, gehen Behörden beispielsweise pauschal davon aus, dass Siedlungs- und Verkehrsflächen zu 50 Prozent versiegelt sind. „Mit dieser Methode erhält man eine gute Schätzung, aber mehr auch nicht“, so Rienow.
Welche Flächen als versiegelt gelten sollen und welche nicht, ist in manchen Fällen gar nicht so leicht zu entscheiden.
Im Projekt „Erfassung der landesweit versiegelten Fläche und Ermittlung des Indikators Bodenversiegelung für NRW“, kurz EBOVE, entwickeln die Bochumer Forschenden der Abteilung Interdisziplinäre Geoinformationswissenschaften am Geographischen Institut eine präzisere Methode. Zunächst definierten sie, welche Flächen als versiegelt gelten sollen und welche nicht. Maßgeblich dabei war, ob in der Fläche Regenwasser versickern kann. „Das ist in manchen Fällen gar nicht so leicht zu entscheiden“, sagt Andreas Rienow und gibt ein Beispiel: „Wenn jemand einen privaten Pool im Garten errichtet, kann es zwar reinregnen, aber darunter ist der Boden abgedichtet.“ Brücken über Flüssen, unterirdische Bauwerke wie U-Bahnen, Parkhäuser oder Keller, oder Fotovoltaikanlagen auf Wiesen waren ebenfalls Wackelkandidaten. „Im Zweifelsfall haben wir uns auf Basis der Luftbilder entschieden, ob solche Flächen als versiegelt zu betrachten sind“, erklärt Rienow. Was auf dem Bild versiegelt aussah, wurde auch als versiegelt gewertet.
Jedes Modell ist nachher nur so gut wie die Daten, mit denen es trainiert wurde.
In seiner Doktorarbeit nutzt Jan-Philipp Langenkamp frei verfügbare KI-Modelle, welche er für die Bochumer Zwecke adaptierte und trainierte. „Jedes Modell ist nachher nur so gut wie die Daten, mit denen es trainiert wurde“, sagt er – und spricht damit einen besonders zeitaufwendigen Teil des Forschungsprojekts an. Die Bochumer Gruppe trainierte ihren Algorithmus mit Tausenden Ausschnitten aus Luftbildaufnahmen von NRW, für die Studierende der Geografie zuvor definiert hatten, welche Strukturen versiegelte Flächen darstellen und welche nicht. Für manche Landstriche lagen solche Daten bereits vor, etwa von der Stadt Wuppertal oder der Emschergenossenschaft. Aber dieses Material reichte nicht aus. Um genügend gute Trainingsdaten zu erhalten, investierte die Bochumer Gruppe selbst rund 1.000 Arbeitsstunden in die Klassifizierung von Bildern, anhand derer das KI-Modell lernen konnte, versiegelte Flächen von nicht versiegelten zu unterscheiden.
Anders als in früheren Projekten arbeitet Rienows Team im EBOVE-Projekt mit georeferenzierten Luftbildaufnahmen. Diese werden jährlich bei Flügen über NRW aufgenommen und stehen in öffentlichen Datenbanken zur Verfügung. „In Vorgängerprojekten haben wir mit Satellitendaten gearbeitet, aber deren Auflösung ist geringer“, erklärt Andreas Rienow. Während ein Pixel eines Sentinel-2-Satellitenbildes eine Fläche von zehn mal zehn Metern abdeckt, entspricht ein Pixel eines Luftbildes nur einer Fläche von zehn mal zehn Zentimetern. Im Luftbild ist somit weniger Fläche in ein einzelnes Pixel gequetscht, sodass sich Versiegelungsinformationen exakter bestimmen lassen.
NRW in Form von 35.000 Bildkacheln
Ganz NRW ist in dem Datensatz in Form von 35.000 Bildkacheln von jeweils einem Quadratkilometer Größe repräsentiert. Um diese Datenmengen in vertretbarer Zeit auswerten zu können, werden die Analysen vom Statistischen Landesamt IT.NRW durchgeführt. Selbst mit den dort verfügbaren Hochleistungsrechnern dauert die Analyse etwa drei Tage.
Der Datensatz bringt noch eine Herausforderung mit sich: „Die Flüge, bei denen die Bilder entstehen, finden im Frühjahr und Sommer statt, sodass wir Kacheln aus unterschiedlichen Jahreszeiten in einem Datensatz haben“, schildert Langenkamp. Ein Baum ohne Blätter ist im Frühling schwerer als Grünfläche zu erkennen als im Sommer. „Dafür kann man, wenn die Bäume kahl sind, besser sehen, ob noch eine Straße zwischen den Ästen durchschimmert“, wägt Andreas Rienow ab. Daten aus unterschiedlichen Jahreszeiten können somit auch ein Vorteil sein. „Wir müssen aber sicherstellen, dass wir diese Fälle alle in unseren Trainingsdaten abbilden, sodass die KI bei der Klassifizierung später weiß, wie sie damit umgehen muss“, so Langenkamp.
Modell liefert rund 90 Prozent Genauigkeit
Entscheidend in der Methodik der Bochumer Forschenden ist, dass das Modell nicht nur die Informationen jedes einzelnen Bildpixels auswertet, sondern auch den Kontext mit einbezieht. „Neben einem Gebäude befindet sich beispielsweise oft eine Straße – das weiß unser Algorithmus“, veranschaulicht Jan-Philipp Langenkamp. Mittlerweile erreicht das KI-Modell gebietsweise Genauigkeiten von rund 90 Prozent; das bedeutet, dass es etwa 90 Prozent der klassifizierten Pixel korrekt als versiegelt oder nicht versiegelt einordnet.
Die Idee ist, dass auch Anwenderinnen und Anwender ohne spezifisches Vorwissen die Analyse laufen lassen können.
Zudem hat Jan-Philipp Langenkamp die Software so gestaltet, dass sie mit einem einzigen Knopfdruck gestartet werden kann und dabei automatisiert frei verfügbare Geodaten des Landes NRW verarbeitet. „Die Idee ist, dass auch Anwenderinnen und Anwender ohne spezifisches Vorwissen die Analyse laufen lassen können, um sie alle zwei Jahre mit neuen Datensätzen wiederholen zu können“, erklärt er.
Die Ergebnisse liegen am Ende des Prozesses in Form einer binären Maske vor, die über das Luftbild gelegt werden kann und für jede Fläche anzeigt, ob sie versiegelt ist oder nicht. Auch für die Flächen, auf denen die Tribünen des Dortmunder Stadions stehen.