Martin Werding ist neues Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Roman-Herzog-Instituts. © RUB, Kramer

Sachverständigenrat Martin Werding ist neuer Wirtschaftsweiser

Der RUB-Volkswirt berät die Bundesregierung ab sofort in wirtschaftspolitischen Fragen.

Prof. Dr. Martin Werding ist neues Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung („Rat der Wirtschaftsweisen“). Er wurde von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) als Nachfolger des ausgeschiedenen Ratsmitglieds Volker Wieland vorgeschlagen und am 10. August 2022 vom Bundeskabinett ernannt. Werding ist seit 2008 Professor für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen an der Fakultät für Sozialwissenschaft der RUB. Ein Gespräch über herausfordernde Zeiten – und wie man sich trotz allem nicht Bange machen lässt.

Herr Professor Werding, Herzlichen Glückwunsch zur Nominierung zum neuen Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Freuen Sie sich auf die Aufgabe, die Regierung wirtschaftspolitisch zu beraten?
Danke. Ich freue mich in der Tat sehr darauf. Das ist eine ehrenvolle Aufgabe – aber sie ist auch schwierig. Nicht nur, weil einem jetzt die Presse und die ganze Zunft auf die Finger schaut. Die Zeiten sind gerade wirklich schwierig. Wir haben enorme Risiken, die die wirtschaftliche Entwicklung und natürlich auch die Beschäftigungsentwicklung treffen können. Wie gehen wir damit politisch um? Da gibt es schon erheblichen Streit – vielleicht auch im Sachverständigenrat. Ob wir uns dort einig werden, ist eine spannende Frage.

Man sollte der Politik sagen, wo sie keinesfalls hinsteuern sollte.

Was ist Ihnen ein besonderes Anliegen?
Mein Anliegen wäre es in jedem Fall, zu schauen, wie wir im Sachverständigenrat Konsens entwickeln können, um relativ klare Leitplanken aufzustellen. Es geht im Grunde genommen nicht darum, der Politik zu sagen, wo sie hinfahren soll, aber man sollte ihr sagen, wo sie keinesfalls hinsteuern sollte, und damit Handlungsmöglichkeiten ausschließen, die die Probleme verschärfen würden.

Die Pandemie und der Ukraine-Krieg sind beide mit hohen finanziellen Lasten verbunden. Werden wir an Wohlstand verlieren?
Die anhaltende Pandemie mit ihren Lockdown-Maßnahmen hat weltweit zu Lieferengpässen geführt; wie es mit dem Ukraine-Krieg weitergeht, ist aktuell schwer einzuschätzen. Wir haben stark veränderte Rohstoffpreise. Die Situation kann sich noch viel weiter verschärfen, sollte es einen sofortigen Gaslieferungsstopp geben. Dann würde unsere heimische Wirtschaft wahrscheinlich auf breiter Basis in eine Krise rutschen.

Da müssen wir ein Stück weit durch.

Was würde bei einem Lieferungsstopp passieren?
Wenn wir kein russisches Gas mehr bekommen und auf andere Lieferanten umsteigen müssen, so das positivste Szenario, verändern sich wichtige Rahmenbedingungen für die Produktion in Deutschland. Das führt zu Anpassungen, die auch Wohlstand kosten, und zwar auf eine Art und Weise, die auch die Politik nicht abfedern kann. Gestiegene Importpreise für Energie – das macht die Gesellschaft insgesamt ärmer. Da gibt es im Inland nichts umzuverteilen. Da müssen wir ein Stück weit durch.

Sollte die Regierung weitere Maßnahmen zur Entlastung ergreifen?
Wir sollten uns auf die Härtefälle konzentrieren. Armutsgefährdete Menschen haben mit den gestiegenen Energie- und Nahrungsmittelpreisen zu kämpfen. Nach unserem geltenden Recht werden Grundsicherungsleistungen in Deutschland an Preisentwicklungen angepasst – aber immer erst ein Jahr später. Das kommt für die Betroffenen einfach zu spät. Es heißt jetzt, das Existenzminimum schnell genug anzuheben.

Darüber hinaus sollten wir nur das Nötigste tun, um die Kriseneffekte abzumildern. Denn wenn wir Entlastungspakete auf breiter Basis schnüren, ufert unsere Staatsverschuldung aus. Nach der Finanz- und Wirtschaftskrise ist es uns gelungen, die enormen Schulden wieder abzubauen – das haben die wenigsten entwickelten Volkswirtschaften geschafft. Wenn wir, nach drei Krisenjahren, jetzt wieder einen Anstieg des Schuldenstandes gesehen haben, dann sollten wir bei den Ausgaben des Staates wieder auf die Bremse treten – auch, um uns auf weitere Herausforderungen vorzubereiten, etwa den demografischen Alterungsprozess.

Der Anteil der alten Menschen an der Gesamtbevölkerung steigt deutlich an.

Die Bewältigung des demografischen Wandels ist eine der zentralen Herausforderungen unseres Landes. Sie untersuchen die Entwicklung schon seit Jahren wissenschaftlich. Was sagen Ihre Berechnungen? Wird es zukünftig in Deutschland überwiegend alte Menschen geben?
Der Anteil der alten Menschen an der Gesamtbevölkerung steigt in der Tat deutlich an. Natürlich ist das ein Prozess, der sich von Jahr zu Jahr langsam vollzieht, aber wenn man sich eine einfache Kennziffer, wie den demografischen Altenquotienten anschaut, zeigt sich, wie akut die Lage ist. Der Altenquotient setzt Menschen im Rentenalter von 65 und älter ins Verhältnis zu 100 Menschen, die im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 64 sind.

Diese Kennziffer erhöht sich zurzeit dramatisch. Schaut man sich einen größeren Zeitraum an, von 2000 bis 2035, verdoppelt sie sich in dieser Zeit. In den ersten 20 Jahren – die letzten Ist-Daten stammen von 2020 – ist schon ein Drittel dieses Anstiegs passiert. Es bleiben demnach noch 15 Jahre, in denen weitere zwei Drittel hinzukommen. Das heißt, wir stehen jetzt vor einer akuten Phase der demografischen Alterung.

Wie wird sich die demografische Alterung auf die öffentlichen Finanzen auswirken? Was bedeutet der Alterungsprozess für unsere sozialen Sicherungssysteme?
Für die Pflege sind die Probleme noch etwas weiter weg, weil erst ab einem Alter von 75 oder 80 Jahren die Pflegebedürftigkeit stark zunimmt. Aber was die Rente betrifft, überschreiten die Babyboomer demnächst die relevante Altersgrenze. Auch in der Krankenversicherung erhöhen sich die Kosten im Rentenalter deutlich. Wie wir das finanzieren, das wird eine spannende Frage. Nach geltendem Recht würden die Beitragssätze enorm ansteigen, obwohl ja auch das Rentenniveau weiter sinkt.

Die Möglichkeit zum vorzeitigen Renteneintritt passt überhaupt nicht zur demografischen Landschaft und zu unserem Arbeitsmarkt.

Welche Maßnahmen hat die Politik im Bereich der Alterssicherung bereits eingeleitet? Und welche Reformen sind notwendig?
Die Politik hat Anfang der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre, also immer in Krisenzeiten, weitsichtige Maßnahmen im Bereich der Alterssicherung ergriffen. Mit der Erholung des Arbeitsmarktes ab 2006 ist die Politik jedoch etwas fahrlässig geworden und hat das Thema demografischer Wandel nicht mehr ernst genommen. Die Maßnahmen im Rentensystem ab 2014, wie etwa die Einführung der Mütterente, der Rente mit 63 und zuletzt der Grundrente, vernachlässigen, wie sehr die Rentenausgaben in den nächsten zehn Jahren ansteigen werden. Diese Politik können wir so auf gar keinen Fall fortsetzen. Es wäre sogar gut, wir würden das ein oder andere vorsichtig wieder zurückbiegen.

Was zum Beispiel?
Die Rente mit 63, beispielsweise. Die Möglichkeit zum vorzeitigen Renteneintritt passt überhaupt nicht zur demografischen Landschaft und zu unserem Arbeitsmarkt und erfüllt auch kein für mich nachvollziehbares, sozialpolitisches Bedürfnis. Denn die Bezieherinnen und Bezieher dieser Rente sind vergleichsweise gut gestellt und gesünder als andere Versicherte und können trotzdem früh in Rente gehen.

Was wäre Ihr Vorschlag?
Wir brauchen ein steigendes Renteneintrittsalter. Keine schlagartige Heraufsetzung, aber die aktuell-laufende, langsame Anhebung bis 2031 kann und sollte man anschließend einfach fortsetzen, denn die Lebenserwartung steigt immer weiter an – im Schnitt um 1,5 bis zwei Jahre pro Jahrzehnt.

Was viele Expertinnen und Experten empfehlen, mich eingeschlossen, wäre eine Regel, nach der wir zwei Drittel der gesteigerten Lebenserwartung auf die Regelaltersgrenze draufsatteln und ein Drittel als verlängerte Rentenphase lassen. Das würde die Effekte der steigenden Lebenserwartung für das Rentenbudget komplett neutralisieren und die Erwerbsphase im selben Maße verlängern, wie die durchschnittliche Rentenphase.

Leider ist das nur ein Teil unseres demografischen Problems, und zwar der kleinere Teil. Der Größere liegt im Geburtenrückgang der späten 60er-, frühen 70er-Jahre. Daher würde sich das zahlenmäßige Verhältnis von Rentenbeziehenden zu Beitragszahlenden immer noch verschlechtern. Das damit einhergehende Finanzierungsproblem kann man mit der Erhöhung der Rentenaltersgrenze allein nicht lösen.

Wir müssen noch einmal über eine Mischung von umlagefinanzierter Rente und ergänzender Kapitaldeckung nachdenken.

Wie dann?
Wir müssen noch einmal über eine Mischung von umlagefinanzierter Rente und ergänzender Kapitaldeckung nachdenken, also den Politikwechsel, der 2002 bereits eingeleitet wurde – Stichwort Riesterrente – fortsetzen. Wir brauchen rentierliche Anlageformen und mehr Verbindlichkeit – Stichwort Aktienrente. Ob dieses Konzept von der Ampelkoalition umgesetzt wird, ist noch nicht absehbar.

Ist eine Aktienrente riskant?
Kursschwankungen sind für die Altersversorge gar nicht schädlich. Man braucht allerdings Schutzmaßnahmen für Personen, die kurz vor dem Renteneintritt stehen. Diese muss man vor den Schwankungen schützen, ihre Vorsorge rechtzeitig von Aktien abkoppeln.

Die Idee der ergänzenden Kapiteldeckung führt häufig zu Missverständnissen, weil die zeitliche Charakteristik eine andere ist als bei der Umlage. Bei der umlagefinanzierten Rente hat man sofort die Belastung für die laufenden Rentenausgaben; bei der Aktienrente erst die Belastung, dann später die zusätzliche Rente. Eine klug gesteuerte Mischung aus umlagefinanzierter Rente und ergänzender Kapitaldeckung ist die Chance, Haltelinien für die Gesamtbelastung und für das Sicherungsniveau zu definieren, die zueinander passen.

Welchen (un)mittelbaren Effekt hätte die kapitalgedeckte Vorsorge?
Der Politikwechsel kommt, bezogen auf die akute Phase des demografischen Wandels, recht spät. Für die nächsten zehn Jahre bleibt es schwierig. Kapitalgedeckte Vorsorge braucht eine gewisse Ansparzeit. Erträge müssen wieder angelegt werden, damit sich der Vermögensbestand schneller erhöht. Wenn wir das jetzt auf breiter Basis umsetzen, haben wir in 15 bis 20 Jahren den Effekt, dass wir das Umlageniveau für diesen Zeithorizont zurückfahren können. Aktuell müssten wir die Gesamtbelastung höher treiben, dann können wir sie auf Dauer begrenzen. Sonst haben wir mit den Umlagebeiträgen und der Ersparnis für die Aktienrente nämlich eine ziemlich hohe Gesamtbelastung.

Nicht Bange machen und die Laune verderben lassen.

Zu guter Letzt, was ist Ihr Rat als neuer Wirtschaftsweiser an die jungen Generationen?
Meine zentrale Botschaft lautet: Sich nicht Bange machen und die Laune verderben lassen durch die großen Risiken, sondern mit guten Qualifikationen in den Arbeitsmarkt starten, schauen, was man erreichen kann, und sich politisch engagieren.

Zur Person

Martin Werding wurde 1964 in Leverkusen geboren. Nach seinem Studium der Philosophie in München (Magisterabschluss 1989) und der Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München und an der Universität Passau (Diplomvolkswirt 1991) war er von 1992 bis 1999 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Lehrstühlen für Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie für Finanzwissenschaft in Passau; er promovierte 1997.

Von 2000 bis 2008 leitete Werding am Münchner ifo Institut für Wirtschaftsforschung den Bereich Sozialpolitik und Arbeitsmärkte. 2007 hatte er eine Gastprofessur an der Hitotsubashi-Universität in Tokio. Seit seiner Habilitation im Jahr 2008 ist er Professor für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen an der Fakultät für Sozialwissenschaft der RUB.

Seine Forschungsschwerpunkte sind Öffentliche Finanzen, Sozialpolitik (Alterssicherung und Familienpolitik), Bevölkerungsökonomie (Fertilität und Migration) und Arbeitsmarktpolitik. Martin Werding ist seit 2016 Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz.

Veröffentlicht

Mittwoch
10. August 2022
12:52 Uhr

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