Medizin „Willst du mich behandeln, musst du wissen, wer ich bin“
Marie von Lilienfeld-Toal baut an der Ruhr-Universität das erste deutsche Institut für Diversitätsmedizin auf.
Prof. Dr. Marie von Lilienfeld-Toal verstärkt seit dem 1. Juli 2023 die Campusmedizin der Ruhr-Universität. An der Medinischen Fakultät besetzt sie einen Lehrstuhl, der noch „Versorgungsforschung in der Onkologie“ heißt, bald aber in „Diversitätsmedizin“ umbenannt werden soll. Auf diesem Feld dürfte die Forscherin künftig sehr sichtbar werden, denn innerhalb der kommenden zwölf Monate möchte sie an der Ruhr-Universität das erste Institut für Diversitätsmedizin aufbauen, das am 1. Juli 2023 gegründet wurde.
Individuelle sowie gesamtgesellschaftliche und kulturelle Faktoren beeinflussen Häufigkeit, Verlauf und Therapie von Krankheiten.
Marie von Lilienfeld-Toal
Der Sachverhalt ist seit längerer Zeit bekannt: In der Medizin liegen nicht für alle Bevölkerungsgruppen evidenzbasierte Daten in gleicher Qualität vor. Studien zu Menschen aus marginalisierten Gruppen fehlen oft oder vorhandene Daten werden für Diagnose und Therapie nicht ausreichend berücksichtigt. Dabei steht fest, dass Krankheiten sehr unterschiedlich verlaufen, je nachdem welche individuelle Konstitution vorliegt und über welche Ressourcen Individuen verfügen. Gleiches gilt für die Wirkung von Medikamenten und Therapien. Die bekanntesten und bestuntersuchten Determinanten von Gesundheit und Behandlung sind genetischer Hintergrund, Geschlecht/Geschlechtsidentität und sozioökonomischer Status.
„Im schlimmsten Fall führt eine Nichtbeachtung dieser Faktoren zu falschen Diagnosen und zu Fehlbehandlung“, erklärt Marie von Lilienfeld-Toal. Beispielsweise gibt es Studien, die belegen, dass Herzinfarkte bei Frauen später diagnostiziert und behandelt werden als bei Männern, mit entsprechenden negativen Folgen. Eigene Forschungsergebnisse bestätigen die höhere Rate an schweren Nebenwirkungen von Krebstherapien bei Frauen. Belegt ist auch, dass die Heilungschancen bei vielen Krankheiten, zum Beispiel Krebserkrankungen, für Menschen in ärmeren Wohngegenden geringer sind als für Leute in reicheren Vierteln. Bezüglich des genetischen Hintergrundes gibt es vielfache Daten, dass beispielsweise in den USA Angehörige von Minderheiten an sich (das heißt auch nach Berücksichtigung des sozioökonomischen Status) medizinisch schlechter versorgt werden als Weiße. Entsprechende Daten für Deutschland sind bisher noch unsystematisch beziehungsweise lückenhaft, allerdings weisen die vorhandenen Studien auf ähnliche Phänomene hin.
Mein Ziel ist eine gesundheitliche Gleichstellung aller Bevölkerungsgruppen.
Marie von Lilienfeld-Toal
Diese Situation möchte Marie von Lilienfeld-Toal verbessern. „Mein Ziel ist eine Medizin, die den Kontext, in dem sich eine Person befindet, maximal berücksichtigt und dadurch zur gesundheitlichen Gleichstellung aller Bevölkerungsgruppen beiträgt“, sagt sie. Dieses Ziel möchte sie mit dem Institut für Diversitätsmedizin erreichen, das sie innerhalb der kommenden zwölf Monate an der Ruhr-Universität aufbauen will. Sie wird – neben ihrem Wissen zur Diversitätsmedizin – ihre Expertise in Hämatologie und internistischer Onkologie einbringen. „Ich beschäftige mich unter anderem mit den Nebenwirkungen von Therapien und möchte diese verträglicher machen. Natürlich habe ich hierbei auch die Vielfalt der Gesellschaft im Blick.“
Obwohl sie erst seit Kurzem im Bochum ist, hat sie an der Medizinischen Fakultät bereits Mitstreiterinnen und Mitstreiter für das neu gegründete Institut gefunden, dessen Heimat zunächst an der Universitätsstraße 105 sein wird. Es handelt sich um das erste Institut dieser Art in Deutschland.
Zur Person
Insgesamt blickt Marie von Lilienfeld-Toal optimistisch in die Zukunft, obwohl sie weiß, dass das Ziel der gesundheitlichen Gleichstellung zu einer Lebensaufgabe werden dürfte. „Es gibt zu viele Ungleichheiten, zu viele Datenlücken“, sagt sie. „Über viele Faktoren haben wir noch gar nicht gesprochen – Alter zum Beispiel, körperliche Behinderung oder sexuelle Orientierung. Dabei steht fest, dass diese Faktoren den Verlauf von Krankheiten ebenfalls beeinflussen – genau wie kultureller Hintergrund oder Religion sich auf die Wahrnehmung von Krankheit und den Behandlungsverlauf auswirken.“
Ihre Erkenntnisse und Ansätze wird die Forscherin auch in der Ausbildung der Medizinstudierenden einbringen. „Genau wie an meinem vorherigen Arbeitsplatz an der Uni Jena möchte ich auch in Bochum die Vorschläge der Studierenden in das Lehrkonzept des Institutes integrieren“, verspricht sie.