
Ina Otte ist Professorin für Versorgungsforschung am Institut für Diversitätsmedizin der Medizinischen Fakultät.
Medizin Ina Otte will eine Medizin, die alle mitdenkt
Faktoren wie Geschlecht, Alter, körperliche Verfasstheit oder sozioökonomische Herkunft beeinflussen, wie sich Erkrankungen zeigen und welche Therapien wirken.
Wer mit Beschwerden ärztliche Hilfe aufsucht, erwartet eine fundierte Diagnose und eine wirksame Behandlung. „Ärzt*innen gleichen Symptome mit bekannten Mustern ab, ziehen ihre Erfahrung und Intuition hinzu und stellen so ihre Diagnose“, erklärt Prof. Dr. Ina Otte. „Doch eine Erkrankung kann sich bei unterschiedlichen Menschen verschieden zeigen. Ebenso wirken Medikamente und Therapien nicht bei allen gleich.“ Seit Januar 2025 forscht Otte als Professorin für Versorgungsforschung am Institut für Diversitätsmedizin der Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum dazu, welche Faktoren den Krankheitsverlauf und die Behandlung beeinflussen.
Der Standardpatient gehört der Vergangenheit an
Lange Zeit wurden medizinische Studien mit sehr homogenen Gruppen an Teilnehmer*innen durchgeführt: oft männlich, weiß, gebildet, Mittelschicht. „Wir wissen jedoch, dass bereits das Geschlecht einen erheblichen Einfluss darauf hat, wie sich Krankheiten äußern“, so Otte. „Ein bekanntes Beispiel ist der Herzinfarkt. Frauen zeigen oft andere Symptome als Männer. Das führt dazu, dass ihre Herzinfarkte später erkannt und behandelt werden – mit der Folge, dass sie ein fast doppelt so hohes Sterberisiko haben, obwohl sie seltener an Herzinfarkten erkranken.“ Auch bei psychologisch-psychiatrischen Erkrankungen existieren geschlechtsspezifische Verzerrungen. „Männer erhalten seltener eine Depressionsdiagnose – oft, weil ihre Symptome nicht den gängigen Erwartungen entsprechen und diese sich eher mit beispielsweise Abhängigkeiten oder aggressivem Verhalten statt sozialem Rückzug zeigen.“ Solche Ungleichheiten können zu späteren oder sogar falschen Diagnosen und Therapie führen.
Doch Geschlecht ist nur ein Faktor von vielen. Soziale Herkunft, kulturelle Prägungen, das Alter oder die körperliche Verfassung spielen ebenfalls eine Rolle. „Internationale Studien zeigen: Menschen mit Migrationshintergrund suchen oft später ärztliche Hilfe auf. Menschen mit starker sozioökonomischer Benachteiligung haben schlechtere Heilungschancen, etwa bei Krebs“, sagt Otte. „Doch warum ist das so? Liegt es an biologischen Faktoren, strukturellen Hürden, kulturellen Unterschieden, einem anderen Verständnis von Krankheit oder familiären Gegebenheiten? Viele dieser Fragen sind noch nicht ausreichend erforscht.“
Medizinische Forschung für alle
Um die medizinische Versorgung gerechter zu gestalten, setzt sich Ina Otte dafür ein, dass Studien vielfältigere Gruppen an Teilnehmer*innen berücksichtigen. „Dafür müssen wir klären: Wie erreichen wir verschiedene Zielgruppen? Wo sind sie ansprechbar? Welche Informationen brauchen sie? Wie gestalten wir Studien, damit Vertrauen und Motivation zur Teilnahme entstehen?“
Dabei helfen ihr ihre Erfahrungen als Soziologin und Medizinethikerin. „Gerade bei Angehörigen sogenannter marginalisierter Gruppen liegen oft besonders viele Risikofaktoren vor. Daher müssen wir nicht nur rechtliche, sondern vor allem ethische Fragen berücksichtigen“, betont sie. Ihr Team arbeitet interdisziplinär und begleitet medizinische Studien aus unterschiedlichen Fachgebieten. „Es hilft sehr, dass ich bereits seit einigen Jahren an der RUB tätig und hier gut vernetzt bin“, sagt Otte. „Aber ich freue mich auch über neue Kooperationen – je mehr Fachrichtungen sich für diese Thematik sensibilisieren, desto besser.“