Kulturwissenschaften Warum der Brexit nicht aus heiterem Himmel kam
Romane sagten den Ausstieg der Briten aus der EU teils Jahrzehnte voraus. Zu ihren Autoren und Lesern gehörte auch die Politprominenz.
Die Entscheidung für den Brexit im Juni 2016 hat viele überrascht. Bis zum Referendum, sogar bis zum tatsächlichen Austritt im Jahr 2020 hatte man in der EU noch die Hoffnung, die Briten würden doch nicht Ernst machen. Aber kam der Brexit wirklich aus dem Nichts? War er nicht viel mehr der Gipfel eines langen Diskurses und Ergebnis eines gesellschaftlich tief verwurzelten Euroskeptizismus? Lisa Bischoff hat sich im Rahmen ihrer Promotion an der Ruhr-Universität Bochum mit Romanen beschäftigt, die zum Teil bereits Jahrzehnte vorher düstere Zukunftsszenarien der britischen EU-Mitgliedschaft zeichnen. In ihrem Buch „British Novels and the European Union: DysEUtopia“ nähert sich die Anglistin damit dem Thema Brexit aus einer neuen Perspektive: Was verraten uns Romane über das britische Verhältnis zur EU?
Prominente Autoren und Leser
Bei den insgesamt acht Romanen, die Lisa Bischoff genau unter die Lupe genommen hat, handelt es sich zum größten Teil um politische Thriller, die in der Zukunft spielen. Unter den Verfasser*innen sind bekannte Journalist*innen und Historiker*innen, aber auch Autorinnen und Autoren, die auf eine Karriere in der britischen oder europäischen Politik zurückblicken, so zum Beispiel Michael Dobbs, der „The House of Cards“ verfasste, oder Stanley Johnson, Vater von Boris Johnson. Unter den Leser*innen sollen ebenfalls bekannte Namen sein. „Bei einem Besuch bei einem der Autoren in London entdeckte ich auf einem Foto, das während der Book-Launch-Party 1996 aufgenommen wurde, Ex-Premierminister Cameron mit einem euroskeptischen Roman unter dem Arm“, erzählt Bischoff. Einige Jahre später hat er ein Referendum über den Verbleib in der EU verkündet.
In den meisten der Romane ist das zukünftige Großbritannien längst Teil eines vollständig integrierten EU-Staates geworden. „Die Protagonisten enttarnen immer wieder (angebliche) Missstände der EU“, fasst Bischoff zusammen. In einigen gipfeln diese Enthüllungen sogar im Brexit.
Die Einzigartigkeit der britischen Nation in Gefahr
„Die Erzählungen reflektieren dabei euroskeptische Haltungen und Äußerungen, die wir aus Reden oder aus Leitartikeln der Presse kennen und die man bis zu den Anfängen der europäischen Integrationsbemühungen zurückverfolgen kann“, erklärt Lisa Bischoff. Auch in den Reden einer Margaret Thatcher oder eines David Cameron gehe es um die Einzigartigkeit und Andersartigkeit der britischen Nation, die Verteidigung der nationalen Identität. Stolz schaue man im Land zurück auf die uneinnehmbare Insel mit ihrer 1.000 Jahre alten Geschichte, besinne sich auf die altehrwürdigen Institutionen, die imperiale Vergangenheit, die Sonderstellung im Zweiten Weltkrieg. „Bei vielen überwiegt die Angst vor dem Verlust der nationalen Souveränität und Unabhängigkeit. Man misstraut der Brüsseler Bürokratie, dem undurchsichtigen Beamtenapparat, den gesichtslosen Eurokraten und fürchtet die Regulierung, den Föderalismus und Protektionismus“, führt Bischoff aus.
DysEUtopien
Die Romane spiegeln jedoch nicht nur den bekannten euroskeptischen Diskurs wider. In ihrer Arbeit stellt die Autorin auch heraus, wie die Romane in ihren Darstellungen Elemente von bekannten Dystopien aufgreifen. „Ich nenne sie DysEUtopien. Zum Beispiel erinnert die EU in einigen Romanen an einen Orwellschen Überwachungsstaat und in anderen an ‘Brave New World‘“, erklärt sie. Als totalitäres Regime, so die Romane, beraube die EU die Briten ihrer Vergangenheit, ihrer kulturellen Identität, ihrer politischen Traditionen.
Die Angst vor einem europäischen Superstaat wird so auch bei Leserinnen und Lesern geschürt, der Diskurs durch beklemmende Zukunftsvisionen auf eine neue Ebene gehoben. Auch wenn der Einfluss von Fiktion auf politische und gesellschaftliche Entscheidungen nicht leicht zu messen sei, so Bischoff, ist sie überzeugt: „Die in den Romanen enthaltenen Repräsentationen und Erzählungen gewähren uns wertvolle Einblicke in euroskeptische Vorstellungen und helfen so, den Brexit und seine Gründe besser zu verstehen.“