Interview Wege aus der Einsamkeit
Mediziner Georg Juckel appelliert an Betroffene, optimistisch an neue Kontakte heranzugehen und sich nicht entmutigen zu lassen.
Für Betroffene ist Einsamkeit ein zermürbendes Gefühl, wie Prof. Dr. Georg Juckel weiß. Er ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am LWL-Universitätsklinikum und trifft in der Praxis viele Menschen, die unter Einsamkeit leiden. Ab wann Einsamkeit krankhaft wird, was man dagegen tun kann und welche Pflichten die Gesellschaft als Ganzes hat, erklärt er im Interview.
Herr Professor Juckel, in Ihrem Alltag in der psychiatrischen Klinik begegnen Ihnen viele Menschen, die sich einsam fühlen. Wie beschreiben diese ihren Zustand?
Die Menschen empfinden das zermürbende Gefühl, dass sich kein Schwein um sie kümmert. Ihnen fehlt eine engere seelische Verbindung zu jemandem. Sehr typisch ist es, dass Patientinnen und Patienten sagen: Ob ich jetzt lebe oder nicht, interessiert doch keinen. Wozu lebe ich also noch? Andere schildern eine Verbitterung, beruflich oder privat am Nullpunkt angekommen zu sein. Sie ziehen sich immer mehr zurück, haben keinen Antrieb mehr. Einsamkeit kann auch mit Sucht oder Depressionen zusammenhängen. Im Extremfall können suizidale Aspekte hinzukommen.
Warum kann dieses Gefühl für Menschen so überwältigend sein?
Weil wir soziale Wesen sind, keine allein durch die Wälder streifenden Leoparden, sondern Gruppentiere. Wenn wir das Alleinsein nicht produktiv nutzen können, bildet sich das Gefühl der Einsamkeit.
Viele Menschen fühlen sich gelegentlich einsam. Wann ist das Gefühl normal und wann bedenklich?
Solange ich die Fähigkeit habe, festzustellen, dass ich einsam bin und etwas dagegen tun kann, also Kontakt suchen kann, ist Einsamkeit irgendwie normal. Wenn ich es nicht mehr schaffe oder nicht mehr schaffen will, aus der Einsamkeit herauszukommen, wird sie pathologisch. In dieser Situation gehen viele Menschen, davon aus, dass sie sowieso wieder abgelehnt werden, wenn sie auf andere zugehen würden. Das ist eine selbsterfüllende Prophezeiung. Dann rollt der Stein nur noch in die Tiefe, und es wird schwierig, Schritte herauszumachen.
Was bedeutet Einsamkeit für die psychologische und körperliche Gesundheit?
Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass Einsamkeit einen Zustand von Stress erzeugt, wie ein Erschöpfungssyndrom. Das Stresshormon Cortisol ist bei Einsamkeit sehr aktiv und verändert Stimmung, Schlaf und Konzentration. Es kann zu depressiven und Angstzuständen kommen.
Klar ist, dass die Lebenserwartung durch Einsamkeit sinkt.
Einsamkeit hat aber auch körperlich erhebliche Folgen, beispielsweise für Blutdruckregulation, Diabetes oder Herzrhythmus. Es kommt zu klassischen Stressfolgeerkrankungen. Es gibt wissenschaftliche Arbeiten, die zu dem Schluss kommen, dass Einsamkeit genauso schlimm ist, wie zwei Päckchen Zigaretten am Tag zu rauchen. Natürlich muss man genau hinschauen, welche Messungen solchen Vergleichen zugrunde liegen. Aber klar ist, dass die Lebenserwartung durch Einsamkeit sinkt.
Was kann man gegen Einsamkeit tun?
Psychotherapeutisch ist es das Wichtigste, den Menschen wieder Hoffnung zu machen. Wir versuchen, sie zu ermuntern, selbst wieder aktiv zu werden. Man darf sich nicht entmutigen lassen, wenn man die ein oder andere schlechte Erfahrung auf der Suche nach Kontakten macht. Das ist normal.
Weil Betroffene sich scheuen, Kontakte zu suchen, ist es wichtig, dass Angebote gegen Einsamkeit niederschwellig sind. Bei uns in der Klinik gibt es zum Beispiel eine Einsamkeitssprechstunde, die man telefonisch erreichen kann.
Einsamkeitssprechstunde
Aber auch außerhalb von Kliniken gibt es tolle Initiativen, zum Beispiel die Plauderbänke, wo Ehrenamtliche sich Zeit für Gespräche nehmen. Die Selbsthilfe-Kontaktstelle in der Alsenstraße in Bochum hat zahlreiche Gruppen und Angebote, und über die Ehrenamtsagentur kann man leicht herausfinden, wo man sich engagieren und so Kontakte finden kann.
Ich sehe aber nicht nur die Betroffenen in der Pflicht – sondern uns alle.
Wir müssen uns alle mal an die eigene Nase fassen und fragen: Was wissen wir von unseren Nachbarn?
Wie meinen Sie das genau?
Einsamkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Wir müssen uns alle mal an die eigene Nase fassen und fragen: Was wissen wir von unseren Nachbarn? Gibt es da welche, die man selten sieht und ein bisschen komisch findet? Bei denen man das Gefühl hat, dass sie selten Besuch bekommen? Was hindert uns daran, da mal anzuklopfen und zu fragen, ob man einen Kaffee zusammen trinken soll? Oder einfach mal ein Schwätzchen im Hof zu halten? Viele sind total dankbar dafür, wenn sie sich fünf oder zehn Minuten an der Mülltonne unterhalten haben. Man kann präventiv sehr viel bewirken.
Einsamkeit wird oft mit älteren Menschen in Verbindung gebracht. Aber Studien zeigen, dass zunehmend Jüngere betroffen sind. Beobachten Sie diesen Trend auch in Ihrer klinischen Praxis?
In der Tat sehen wir bei Einsamkeit einen Doppelgipfel. Es gibt viele ältere Menschen, die sich einsam fühlen, aber es gibt noch einen zweiten Gipfel bei den Jüngeren, die oft nicht so richtig einen Platz in der Gesellschaft finden. Im mittleren Alter ist das Einsamkeitsgefühl nicht so ausgeprägt, weil die Leute im Beruf eingespannt sind. Auch wenn Studien zeigen, dass die Einsamkeit bei den Unter-30-Jährigen zunimmt, kann ich nicht sagen, dass wir diese Verschiebung in der klinischen Praxis bemerken. Das liegt aber daran, dass wir schon immer mit den Jüngeren zu tun hatten, die aus unterschiedlichsten Gründen bei uns landen. Wir sehen aber eine andere Verschiebung.
Freunde, Familie oder andere Institutionen wie Vereine oder Kirchen können das anscheinend nicht mehr auffangen.
Welche denn?
Es gibt einen Trend, dass mehr Menschen zu uns kommen, die keine psychiatrische Erkrankung haben, sondern sich in einer psychischen Krise befinden. Zum Beispiel eine Trennung durchleben, einen Streit mit dem Chef haben – kritische Lebenssituationen also, wie sie alle Menschen treffen können. Dass diese Fälle bei uns in der Klinik aufschlagen, zeigt, dass Freunde, Familie oder andere Institutionen wie Vereine oder Kirchen das anscheinend nicht mehr auffangen. Krisen rutschen sofort durch in die psychiatrischen Krankenhäuser. Wir helfen natürlich auch in diesen Situationen gern, weil wir gern präventiv arbeiten wollen.
Was raten Sie Menschen, die sich einsam fühlen?
Das Wichtigste ist, dass man anerkennt, dass man ein Problem hat. So wie ein Alkoholiker erkennt, dass er alkoholabhängig ist, muss der einsame Mensch erkennen, dass er einsam ist. Dann ist die Frage, ob man es selbst schafft, sich mit anderen Menschen wieder etwas aufzubauen. Einsame Menschen sind skeptisch, weil sie negative Erfahrungen gemacht haben. Mag sein, dass, wenn sie neue Kontakte suchen, die ersten fünf nicht wie gewünscht verlaufen. Aber dann ist vielleicht der sechste ok.
Es ist wichtig, offen und optimistisch an die Kontakte heranzugehen, aber auch zu akzeptieren, wenn einige davon nicht taugen. Was ist das Schlimmste, was passieren kann? Wenn ich zum Chor gehe und es mir dort nicht gefällt, gehe ich halt nicht mehr hin, sondern mache etwas anderes. Man kann nichts erzwingen, es muss sich ergeben. Dafür muss man die Gelegenheiten schaffen.