Ein Wohnhaus in der ukrainischen Stadt Mariupol unter Beschuss © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Evgeniy Maloletka

Ukraine-Konflikt „Anzeichen für Vorliegen von Kriegsverbrechen verdichten sich täglich“

Der Internationale Gerichtshof hat angeordnet, dass Russland den Krieg gegen die Ukraine beenden muss. Längst geistert auch der Begriff Kriegsverbrechen durch die Medien. Ein Bochumer Jurist erklärt die Bedeutung.

Herr Professor Thielbörger, was bedeutet es, wenn der Internationale Gerichtshof anordnet, dass ein Land einen Krieg beenden muss?
Erst einmal ist wichtig festzuhalten, dass es sich bei der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) um vorläufigen Rechtsschutz handelt. Die Ukraine hatte darin geltend gemacht, dass sie durch Russland der falschen Beschuldigung eines Genozids ausgesetzt worden sei und dass Russland aufgrund dieser falschen Behauptung einen illegalen Militäreinsatz auf ukrainisches Territorium begonnen habe. Diese Rechte hat der IGH nun im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes zwar noch nicht endgültig bejaht – die Entscheidung in der Hauptsache steht noch aus –, aber er hat sie für plausibel und vorläufig schützenswert befunden. Da die russische Invasion diese möglichen Rechte der Ukraine bedroht, müssen die russischen Militäraktivitäten sofort ausgesetzt werden.

Welche Konsequenzen hat das?
Die Entscheidung des IGH, obgleich im vorläufigen Rechtsschutz, ist rechtlich bindend. Russland muss diese Entscheidung befolgen. Eine Durchsetzung des Urteils bei Zuwiderhandlung wäre jedoch nur über den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen möglich. Und da hat Russland bekanntermaßen ein Veto.

„Mir war es während der Online-Lehre wichtig, nicht nur die technischen Möglichkeiten auszuschöpfen, um den Unterricht interaktiv und abwechslungsreich zu gestalten, sondern für die Studierenden in dieser Zeit ein offenes Ohr zu behalten“, sagt Pierre Thielbörger. © IFHV
Prof. Dr. Pierre Thielbörger ist Geschäftsführender Direktor des RUB-Instituts für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht und Inhaber des Lehrstuhls Öffentliches Recht und Völkerrecht an Juristischen Fakultät der RUB.

Russland steht im Verdacht, in der Ukraine Kriegsverbrechen zu begehen. US-Präsident Biden hat den russischen Präsidenten Putin in einer Rede bereits als Kriegsverbrecher bezeichnet. Wer entscheidet, was ein Kriegsverbrechen beziehungsweise wer ein Kriegsverbrecher ist?
Das entscheiden Strafgerichte. Da es sich beim Vorwurf der Kriegsverbrechen um ein völkerrechtliches Kernverbrechen handelt, kommen dafür einerseits nationale Strafgerichte, zum Beispiel in Deutschland, infrage. Andererseits kann diese Frage von internationalen Strafgerichten, vor allem dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, beantwortet werden. Dort wird nun bereits hinsichtlich möglicher Kriegsverbrechen in der Ukraine ermittelt. Allerdings sind diese Ermittlungen bisher noch allgemeine Ermittlungen, die sich noch nicht gegen einzelne Personen wie Präsident Putin richten.

Welche Kriterien sind für die Entscheidung maßgeblich? Ist jetzt schon zu sagen, ob in der Ukraine Kriegsverbrechen begangen wurden?
Kriegsverbrechen sind nach dem Völkerstrafrecht besonders schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht. Das humanitäre Völkerrecht stellt Regeln auf, um das durch Krieg verursachte Leid möglichst gering zu halten. Es regelt insbesondere, dass zivile Ziele nicht angegriffen werden dürfen. Wenn nun beispielsweise ein Krankenhaus vorsätzlich angegriffen wird, dann handelt es sich dabei mit relativer Sicherheit um ein Kriegsverbrechen. Anders könnte der Angriff zu bewerten sein, wenn sich in dem Krankenhaus Scharfschützen der gegnerischen Armee aufgehalten haben. Es sind also immer die konkreten Umstände des Einzelfalls entscheidend.

Wir sollten mit der Bewertung noch zurückhaltend sein.

Da wir derzeit noch wenig gesicherte Informationen zu einzelnen Vorkommnissen haben, sollten wir mit der Bewertung noch zurückhaltend sein. Aber man kann nicht leugnen, dass sich die Anzeichen für das Vorliegen von Kriegsverbrechen täglich verdichten.

Welche Folgen könnte es für Wladimir Putin haben, wenn er als Kriegsverbrecher verurteilt würde?
Nach dem Römischen Statut, dem Gründungsdokument des Internationalen Strafgerichtshofs, drohen Kriegsverbrechern Freiheitsstrafen von bis zu 30 Jahren oder – im Falle von besonders schweren Verbrechen – lebenslange Freiheitsstrafen. Das ist aber nur die theoretische Strafandrohung. Ob es wirklich zu einer Anklage, oder sogar einer Verurteilung, gegen Herrn Putin kommt, steht natürlich auf einem anderen Blatt.

Das Vertrauen wieder aufzubauen wird eine Mammutaufgabe.

Was bedeuten die aktuellen Geschehnisse für die künftige Zusammenarbeit des Westens mit Russland? Welche Form von Beziehungen sind nach einem hoffentlich baldigen Ende des Krieges überhaupt noch denkbar?
Das ist heute schwierig zu sagen. Meines Erachtens kommt es auch auf die Entwicklungen innerhalb Russlands an. Solange in der Ukraine Krieg herrscht und das derzeitige Regime im Kreml regiert, sind normalisierte Beziehungen nicht denkbar. Aber auch im Falle der Beendigung des Krieges und eines Regierungswechsels in Moskau wird es wohl eine gewisse Zeit dauern, bis eine Annäherung zwischen Russland und dem Westen wieder stattfinden kann. Es ist sehr viel Vertrauen, das für stabile internationale Beziehungen enorm wichtig ist, zerstört worden. Das wieder aufzubauen wird eine Mammutaufgabe.

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Veröffentlicht

Donnerstag
24. März 2022
09:20 Uhr

Dieser Artikel ist am 2. Mai 2022 in Rubin 1/2022 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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