Alle Augen sind derzeit auf die Ukraine gerichtet. Ein RUB-Experte ordnet die Lage aus völkerrechtlicher Sicht ein.
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Ukraine-Konflikt „Größte Bedrohung der internationalen Friedensordnung nach 1945“

Pierre Thielbörger, Experte für Friedenssicherungsrecht und Völkerrecht, äußert sich zu der eskalierenden Lage in der Ukraine.

Russland hat eine militärische Offensive gegen die Ukraine begonnen und Präsident Wladimir Putin diesen Schritt in einer langen Rede begründet. Wie seine Argumente aus völkerrechtlicher Sicht zu bewerten sind, welche Möglichkeiten der Westen nun hat und was die Krise für das Völkerrecht im Allgemeinen bedeutet, erklärt Prof. Dr. Pierre Thielbörger, Geschäftsführender Direktor des RUB-Instituts für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht und Inhaber des Lehrstuhls Öffentliches Recht und Völkerrecht an Juristischen Fakultät der RUB.

Herr Professor Thielbörger, Präsident Wladimir Putin versteht die Ukraine als künstliches Gebilde und spricht ihr das Recht ab, ein souveräner Staat zu sein. Ist an dieser Sichtweise etwas dran?
Nein, das ist Unsinn. Die Ukraine ist spätestens seit dem Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 1991 ein unabhängiger und souveräner Staat. Das wird auch – außer von Russland – von niemandem ernsthaft bestritten. Ob ein Staat existiert, bemisst sich grundsätzlich danach, ob eine Körperschaft über drei Elemente verfügt: über ein eigenes Staatsvolk, abgrenzbares Staatsgebiet und eine effektive Staatsgewalt. Im Falle der Ukraine besteht daran gar kein Zweifel: Die Ukraine verfügt über klare Grenzen. Ihr Staatsvolk versteht sich als solches und insbesondere als unabhängig von der Sowjetunion, beziehungsweise der Russischen Föderation, wie sich aus über 90 Prozent der Stimmen des Unabhängigkeitsreferendums aus dem Jahr 1991 ergibt. Und selbstverständlich verfügt die Ukraine über eine eigene funktionierende und anerkannte Regierung, Verwaltung und andere staatliche Infrastruktur. Das Erfüllen der drei notwendigen Staatselemente spricht eindeutig für die Staatlichkeit der Ukraine.

Dass über die Staatlichkeit der Ukraine überhaupt gesprochen werden muss, ist unbegreiflich.

Neben dieser eher theoretischen Perspektive beweist auch die Praxis der internationalen Gemeinschaft eindeutig, dass es sich bei der Ukraine um einen eigenen Staat handelt. Außer Russland unterhalten die meisten Staaten weltweit diplomatische Beziehungen zur Ukraine, die Ukraine ist als Staat Mitglied in zahlreichen internationalen Organisationen und unterwirft sich als Staat dem Völkerrecht. Dass über die Staatlichkeit der Ukraine überhaupt gesprochen werden muss, ist unbegreiflich.

Lässt das Völkerrecht Interpretationen zu? Putin scheint es zumindest anders auszulegen als der Westen.
Interpretationen gibt es im Recht immer, auch und gerade im internationalen Recht, wo ja verschiedene Rechtstraditionen aufeinandertreffen. Aber dieser Fall ist ausnahmsweise einmal eindeutig. Artikel 2(4) der Charta der Vereinten Nationen verbietet Androhung und Anwendung von militärischer Gewalt. Dieses für die Völkerrechtsordnung so fundamentale Gewaltverbot hat Russland verletzt. Irgendwelche Rechtfertigungsversuche mit ausgedachten Genoziden in der Ostukraine vermögen daran auch nichts zu ändern.

Putin gibt sich immer weniger Mühe, die Argumentation völkerrechtlich glaubhaft zu gestalten.

Außerdem ist Russlands Argumentation aufgrund seiner Widersprüchlichkeit zu früheren Äußerungen sehr fragwürdig. Es ist immer gefährlich, wenn ein Staat Normen zu seinen Gunsten opportunistisch uneinheitlich auslegt. So ist es hier. Den Tschetschenen soll kein Recht auf Selbstbestimmung zustehen (weil sich dort viele die Unabhängigkeit wünschen), den Bewohnern der Krim und der Ostukraine aber schon, weil viele dort ethnisch russisch sind und sich eine engere Anbindung an Russland wünschen. Eine humanitäre Intervention – also ein militärisches Eingreifen zum Schutz der Zivilbevölkerung bei krassen Menschenrechtsverletzungen – wurde von den Russen im Kosovo-Einsatz kritisiert, nun berufen sie sich für die Ostukraine selbst eben darauf. Hier wird das Völkerrecht mit vorgeschobenen „Interpretationen“ ignoriert. Außerdem muss man feststellen, dass sich Putin immer weniger Mühe gibt, diese Argumentation völkerrechtlich glaubhaft zu gestalten.

Zumindest die Regierung der Ukraine, die nach den Protesten auf dem Majdan 2014 an die Macht kam, will Putin nicht anerkennen. Wie ist die Regierungsbildung rund um die damaligen Proteste aus völkerrechtlicher Sicht zu bewerten?
Das war ein vom Volk organisierter Umsturz einer Regierung, wie wir ihn schon oft in der Geschichte erlebt haben und auch weiter erleben werden. Die damalige ukrainische Regierung hatte in den Augen des ukrainischen Volkes relativ eindeutig ihre Legitimität verloren. Die derzeitige Regierung und Präsident Selenskyj sind darüber hinaus demokratisch gewählt worden und üben effektive Hoheitsgewalt aus. Dass einzelne Staaten – auch gewichtige Staaten wie Russland – eine Regierung nicht anerkennen, ist nach dem Völkerrecht nicht erheblich und rechtfertigt schon gar nicht eine derart massive Invasion.

„Mir war es während der Online-Lehre wichtig, nicht nur die technischen Möglichkeiten auszuschöpfen, um den Unterricht interaktiv und abwechslungsreich zu gestalten, sondern für die Studierenden in dieser Zeit ein offenes Ohr zu behalten“, sagt Pierre Thielbörger.
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Pierre Thielbörger ist Geschäftsführender Direktor des RUB-Instituts für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht und Inhaber des Lehrstuhl Öffentliches Recht und Völkerrecht an Juristischen Fakultät der RUB.

Welche Möglichkeiten hat der Westen jetzt zu reagieren? Können die wirtschaftlichen Sanktionen, die der Westen verhängen kann, Putin überhaupt etwas anhaben?
Wirtschaftliche Sanktionen können schon große Effekte erzielen. Allerdings muss man bedenken, dass Maßnahmen wie Handelsembargos oft nicht die Eliten, sondern die Zivilbevölkerung treffen – und dass sie auch ein Boomerang sein können. Die Abstandnahme von Nord Stream 2 oder der Ausschluss russischer Banken aus dem SWIFT-Verbund würden zum Beispiel auch Europa und insbesondere Deutschland treffen. Angesichts der krassen Eskalationslage, die insbesondere seit heute besteht, ist es aber wohl mittlerweile unvermeidbar, dass all diese möglichen Maßnahmen ausgeschöpft werden.

Gibt es für den Westen eine rechtliche Grundlage, um beispielsweise auch militärisch einzugreifen? Und befürchten Sie, dass es dazu kommen könnte?
Der Sicherheitsrat könnte einen Einsatz erlauben – nach Artikel 42 VN Charta –, aber das wird angesichts eines russischen Vetos nicht passieren. Seit heute dürfte auch die Schwelle zum bewaffneten Angriff überschritten sein, sodass der Ukraine das Recht der Selbstverteidigung zusteht nach Artikel 51 VN Charta. Dieses kann individuell oder kollektiv – also mit anderen Staaten ausgeübt werden. Einen Anspruch auf diese militärische Hilfe anderer Staaten hat die Ukraine indes nicht. Anders als in der NATO oder der EU besteht innerhalb der Vereinten Nationen das Recht anderer Staaten, einen Staat bei der eigenen Selbstverteidigung zu helfen. Eine Pflicht besteht für die anderen Staaten also nicht.

Im Moment sieht es danach aus, als suche sich China die Rolle eines – sehr interessierten – Zuschauers aus.

Spielt eigentlich auch China eine Rolle in diesem Konflikt?
China ist wie Russland eine Veto-Macht im Sicherheitsrat. Damit könnte auch China Resolutionen blockieren. Ob China dies tun würde, lässt sich im Moment jedoch nicht vorhersagen. Vor den olympischen Spielen haben Russland und China noch eine Freundschaft „ohne Grenzen” beschworen. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz hat der chinesische Außenminister dann jedoch explizit gesagt, dass jedes Land ein Recht auf Achtung seiner territorialen Integrität habe, auch die Ukraine. Heute hat eine Sprecherin der chinesischen Regierung sich geweigert, den russischen Angriff eine „Invasion“ zu nennen und Vorwürfe an die NATO artikuliert. Jedoch hat sie gleichzeitig gefordert, „alle Parteien“ sollen deeskalieren. Es kommt also weder Verurteilung noch expliziter Rückenwind aus Peking. Im Moment sieht es danach aus, als suche sich China die Rolle eines – sehr interessierten – Zuschauers aus.

In den Medien fallen immer wieder die Begriffe Konflikt und Krise. Wann spricht man eigentlich – juristisch gesehen – von Krieg?
Den Begriff gibt es völkerrechtlich eigentlich nicht. Wir sprechen von bewaffnetem Konflikt. Der kann bestehen zwischen Staaten, das nennt man einen internationalen bewaffneten Konflikt, oder innerhalb eines Staates, wenn gewisse Voraussetzungen – Intensität der Gewaltanwendung; Organisiertheit der kämpfenden Gruppe – gegeben sind. Dann spricht man von einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt. Das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts ist insbesondere für die Frage wichtig, ob das humanitäre Völkerrecht anwendbar ist, das vor allem zum Schutz der Zivilbevölkerung während bewaffneter Konflikte geschaffen wurde.

Die Durchsetzungsmechanismen des Völkerrechts sind leider schwach.

Ist die Situation rund um die Ukraine mit dem militärischen Eingreifen Russlands nun außer Kontrolle geraten oder kann das Völkerrecht noch etwas retten?
Der klare Verstoß des russischen Staates gegen das Gewaltverbot stellt die Völkerrechtsordnung zwar in Frage, macht sie jedoch nicht obsolet. Es handelt sich um eine normative Ordnung und die sie ausmachenden Normen verlieren ihren Anspruch auf Gültigkeit und Einhaltung nicht nur dadurch, dass sie gebrochen werden. Es kommt jetzt entscheidend auf die Reaktion der internationalen Gemeinschaft an. Sie muss die Gewaltanwendung durch Russland ausdrücklich, deutlich und möglichst einheitlich als illegal zurückweisen. Außerdem erlaubt das Völkerrecht die Anwendung von Gegenmaßnahmen wie etwa Wirtschaftssanktionen, um einen delinquenten Staat zur Einhaltung der Rechtsordnung zu bewegen. Diese sollten nun ebenfalls implementiert werden. Darüber hinaus sind die Durchsetzungsmechanismen des Völkerrechts jedoch leider schwach. Es gibt keine unabhängige Weltpolizei und keine zwingende Gerichtsbarkeit, die sich eines Verstoßes annehmen könnten.

Wie verbindlich ist das Völkerrecht? Welche Konsequenzen kann ein Verstoß für Russland haben?
Das Völkerrecht ist bindend – aber – wie eben erwähnt – hat es in der Tat schwächere Sanktionsmöglichkeiten als das nationale Recht. Grundsätzlich kann der Sicherheitsrat eine gewisse Durchsetzung von Regeln sicherstellen. Mit mehr als Worten geht dies jedoch nur nach Kapitel VII der VN-Charta, und immer dann nicht, wenn eine der fünf Vetomächte gegen entsprechende Resolutionen stimmt. Das haben wir schon oft, auch in der Trump-Ära oder in Fragen rund um Syrien, gesehen. Deswegen bleiben nur die eben erwähnten Sanktionen, die andere Staaten gegenüber Russland verhängen können. Dies sind einerseits wirtschaftliche und finanzielle Maßnahmen, andererseits auch solche, die man smart sanctions nennt, wie das gezielte ins-Visier-Nehmen der politischen Elite, etwa durch Einfrieren von Konten oder Reiseverbote.

Wie besorgt sind Sie insgesamt über die jüngsten Entwicklungen und was für eine Reaktion erwarten Sie nun vom Westen?
Ich bin sehr besorgt – derartige Brüche der internationalen Ordnung, noch dazu in Europa, haben wir selten in den vergangenen Jahrzehnten gesehen. Es handelt sich um die wohl größte Bedrohung der internationalen Friedensordnung nach 1945. Die anderen Mitglieder der internationalen Gemeinschaft, nicht nur der Westen, müssen nun mit aller Schärfe, und vor allem Schulter an Schulter gemeinsam, reagieren. Sie müssen darauf bestehen, dass so eklatante Brüche des Völkerrechts nicht hinnehmbar sind.

Hilfsangebote

Alle Hilfsangebote der RUB für Menschen aus der Ukraine werden auf einer Webseite gesammelt, die kontinuierlich erweitert wird.

Statements von HRK und DAAD

Die RUB hat sich auch den Statements der Hochschulrektorenkonferenz und des Deutschen Akademischen Austauschdienstes zum Angriff auf die Ukraine angeschlossen.

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Veröffentlicht

Donnerstag
24. Februar 2022
13:49 Uhr

Dieser Artikel ist am 2. Mai 2022 in Rubin 1/2022 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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