Abschlussarbeit Wie ein Viertel sein Gesicht verändert
Kaufen, sanieren, Wohnungen für den doppelten Preis wieder vermieten: Ist das Schreckgespenst Gentrifizierung jetzt auch in Bochum angekommen? Ein Spaziergang durch den Kortländer Kiez.
Ein Thema für die Abschlussarbeit finden – gar nicht so leicht. Marie Steinhauer hatte Glück. Das Thema für ihre Bachelorarbeit lag quasi vor ihrer Haustür. Die 23-Jährige studiert Sozialwissenschaft und hat sich mit dem sogenannten Kortländer Kiez beschäftigt. Der Kiez liegt innerhalb des Bochumer Innenstadtrings; ungefähr da, wo sich Am Kortländer, Brückstraße, Herner und Dorstener Straße treffen. In wenigen Gehminuten ist man im Bermudadreieck. Der Kortländer Kiez ist auch Maries Kiez: Sie wohnt seit zwei Jahren in der Straße Am Kortländer, also mittendrin.
„Bevor ich hier hin gezogen bin, hatte ich dieses Viertel gar nicht auf dem Schirm“, erzählt Marie, während sie vor der Eisdiele Kugelpudel an ihrem Kaffee nippt. 20 Sekunden braucht sie von Zuhause bis hierhin. Die Sonne scheint, Studenten mit Hornbrillen und Röhrenjeans haben es sich auf Bänken gemütlich gemacht. „Als ich dann hier wohnte, habe ich gemerkt, dass irgendetwas vor sich geht“, sagt sie. Wo sonst nur Dönerbuden, türkische Friseure und Supermärkte zu finden waren, zogen plötzlich alternative Läden ein. Marie beobachtete. Und verspürte den Drang, das, was sie sah, wissenschaftlich zu erklären. Das Thema für ihre Bachelorarbeit war geboren.
Den Begriff Gentrifizierung kennt man vor allen Dingen aus anderen Städten: Prenzlauer Berg und Kreuzberg in Berlin, das Schanzenviertel in Hamburg, Köln-Ehrenfeld. Wenn Marie von Gentrifizierung spricht, benutzt sie die englische Bezeichnung „Gentrification“ – „weil es den eingedeutschten Begriff im wissenschaftlichen Kontext gar nicht gibt“, sagt sie. Beides meint, vereinfacht gesagt, dass wohlhabendere Menschen ins Viertel ziehen und die alteingesessenen, ärmeren Bewohner verdrängen. Wohneigentum wird aufgekauft und aufgehübscht, parallel steigen die Mieten ins Unermessliche. Droht dieses Schicksal auch dem Kortländer Kiez? Damit hat sich Marie in ihrer Arbeit beschäftigt.
Läuft man durch die Seitenstraßen des Kortländers, fallen die vielen verschnörkelten Fassaden auf. „Nur fünf Prozent aller Gebäude in Bochum sind über beide Kriege hinweg erhalten geblieben“, erzählt Marie. Verhältnismäßig viele dieser Altbauten stehen hier im Kiez. Noch vor zwei Jahren hätte man die Gegend – neben den Schmuckfassaden – wie folgt beschrieben: relativ viel Leerstand, günstige Mieten, Multikulturalität, fast keine alternative Szene. Ideale Voraussetzungen für eine Gentrifizierung.
Der Kiez verändert sich
„Gentrification läuft idealtypisch in vier Phasen ab“, erzählt Marie. „In der ersten Phase entdecken sogenannte Pioniere den Raum für sich. Meist sind das freischaffende Künstler und Studenten mit geringem ökonomischen Kapital.“ Im Fall Kortländer Kiez siedelt sich die Eisdiele Kugelpudel an – in einem Altbau, der zu den Schmuckstücken des Viertels gehört. Es folgen weitere alternative Gewerbe wie die Kneipe „Trinkhalle“, und damit wird die zweite Phase der Gentrifizierung eingeläutet.
Immer mehr Pioniere ziehen nach, der Kiez verändert sich: Es gibt Straßenfeste, Konzerte, abends ist die Straße Treffpunkt. Die Menschen, die hier wohnen und feiern, identifizieren sich mit ihrem Viertel, geben ihm einen Namen: Kortland. Die Medien berichten. Häufig fallen Schlagwörter wie „hip“ oder „Szeneviertel“. „Das Viertel wird so symbolisch aufgewertet“, sagt Marie.
Hier endet aber vorläufig die Entwicklung. Der Kiez ist in der zweiten Phase der Gentrifizierung steckengeblieben. Maries Prognose: „Ich glaube nicht, dass die kulturell vielfältigen Gewerbe in Zukunft verdrängt werden. Dafür gibt es hier zu wenige Gentrifier, also Neureiche, die das Viertel für sich beanspruchen und die Pioniere verdrängen würden.“ Das Kortland bleibt also erst einmal so, wie es ist: von der Bevölkerung ziemlich durchmischt und ziemlich günstig in puncto Mieten.
Um dieses Fazit ziehen zu können, hat Marie Zeitungsartikel ausgewertet und Interviews mit Gewerbetreibenden vor Ort geführt. Mit den Neuankömmlingen, aber auch mit denjenigen, die über mehrere Generationen ihr Geschäft betreiben. Wieso haben sie ausgerechnet hier ihren Laden aufgemacht? Wie empfinden sie die Veränderungen im Kiez? Der Mitarbeiter eines türkischen Supermarktes begrüßt beispielsweise die Entwicklung. „Er hat erzählt, dass jetzt Studenten in seinen Laden kommen“, sagt Marie. Auch so nähern sich unterschiedliche Kulturen einander an.
Bei so vielen Daten habe ich oft die Geduld verloren.
Marie Steinhauer
Außerdem hat Marie die Daten von Googles „Street View“ ausgewertet. Die aktuell verfügbaren Aufnahmen stammen aus dem Jahr 2007. Um sie mit heute vergleichen zu können, ist sie selbst mit der Kamera losgezogen. Wie hat sich der Leerstand entwickelt? Welche Geschäfte sind neu dazugekommen? Daraus entwickelte sie unter anderem einen Datensatz, um den Altbaubestand festzuhalten. Viele Städte verfügen per se über solche Datensätze. Bochum leider nicht.
„Auch zum Thema Gentrification im Ruhrgebiet gibt es kaum Literatur“, erzählt Marie. Die Folge: viel Unsicherheit und ein riesiger Haufen Arbeit. So riesig, dass Marie ein Semester drangehangen hat, um ihre Erhebungen fertig zu stellen. Wenn sie heute an diese Zeit zurückdenkt, fällt ihr ein Wort ein: zäh. „Bei so vielen Daten habe ich oft die Geduld verloren“, erinnert sie sich. Alles hinschmeißen? Darüber habe sie in der Tat zweimal nachgedacht. In solchen Momenten sei ihre Schwester zur Stelle gewesen, um ihr den Kopf geradezurücken.
Dennoch bereut Marie nichts: „Ich fand das Thema spannend, und auch mein Betreuer David Gehne stand voll und ganz dahinter.“ 175 Seiten ist ihre Bachelorarbeit stark geworden. 175 Seiten eigene Forschung. Nächste Station: Master Sozialwissenschaft mit dem Schwerpunkt Stadt- und Regionalentwicklung an der RUB. Dass sie bei der Abschlussarbeit wieder forschen möchte, steht für Marie jetzt schon fest.
Eine Frage bleibt noch offen: Wie ist das eigentlich so, aus der Haustür zu kommen und mitten in der eigenen Bachelorarbeit zu stehen? Marie lacht. „Während des Schreibens habe ich überall nur Arbeit gesehen: Beim Straßenfest habe ich wie wild fotografiert, Flyer gesammelt, in der Trinkhalle eine Ausstellung zur Geschichte des Viertels besucht – ich kam da gar nicht mehr raus“, erinnert sie sich. Das sei jetzt besser. Weil sich nicht mehr so viel tue im Kiez. Neulich hat ein Plattenladen eröffnet. Sonst ist alles ruhig. Marie kann entspannen. Und sich über ihre glatte Eins freuen. „Eine Kugel Mango bitte!“