Lehre Update für ein über 100 Jahre altes Hilfsmittel in der Germanistik
Dorothee Lindemann hat sich gefragt, wie sie den Studierenden die Arbeit mit mittelhochdeutschen Texten erleichtern kann.
Dr. Dorothee Lindemann arbeitet am Germanistischen Institut und hat beobachtet, dass Studienanfängerinnen und -anfänger seit Jahrzehnten die gleichen Hürden im Germanistik-Studium haben, wenn es um Mittelhochdeutsch geht. Deshalb hat sie sich ein über 100 Jahre altes Hilfsmittel vorgenommen und verändert. Im Interview erzählt sie, wie es dazu kam und was das genau bedeutet.
Frau Lindemann, welcher Hürden gibt im Germanistik-Studium, wenn es um Mittelhochdeutsch in den Vorlesungen geht?
Lindemann: Die germanistische Mediävistik, die in Bochum wie in allen größeren Universitäten Teil des Germanistikstudiums ist, ist den meisten Studierenden aus der Schule nicht bekannt. Das heißt, es kommt ein ganz neues Feld auf sie zu, was viele zunächst mal sehr spannend finden.
Eine Hürde für viele ist aber sicher die sprachliche Fremdheit des Mittelhochdeutschen, die beim Lesen der mittelhochdeutschen Texte schon ziemlich irritieren kann. Und diese sprachliche Fremdheit besteht auf ganz vielen Ebenen, also zum einen auf dem Bereich der Schreibung. Manche Laute werden zum Beispiel anders grafisch realisiert, als man es aus der Gegenwartssprache kennt. Dann kommt anderes hinzu wie Lautwandel. Es heißt im Mittelhochdeutschen zum Beispiel mien hus und nicht mein Haus. Diese Phänomene sind durchaus auch in der Gegenwartssprache präsent und insofern ist diese Beschäftigung mit dem Mittelhochdeutschen schon auch relevant dafür, dass man die Eigenheiten der Gegenwartssprache erst mal wahrnimmt.
Und welche Hürde haben Sie sich vorgenommen?
Ein wichtiger Punkt für das Leseverstehen insgesamt ist die Wahrnehmung des Satzbaus, die wesentlich mit der Wahrnehmung von Verbformen zusammenhängt. Und die Verben und der Satzbau des Mittelhochdeutschen sind öfters gar nicht so einfach zu erkennen, einfach aufgrund von Sprachwandelprozessen. Die Hürde, die ich mir als Lehrende vorgenommen habe, war die Arbeit an einem Hilfsmittel, das aus dem 19. Jahrhundert stammt, und das helfen soll, Verben zu verstehen. Es geht um die sogenannte Ablauttabelle. Diese Ablauttabelle zeigt den Blick eines Grammatikers auf die Verbflexion. Das heißt, Profis haben sich gefragt: Wie werden denn eigentlich die Verbformen im Deutschen gebildet? Gibt es da Muster? Gibt es da Regeln, die wir beschreiben können? Viele dieser Verben gelten heute zwar als unregelmäßig. Doch im Mittelhochdeutschen war das anders, da lassen sich durchaus noch Regeln erkennen. Diese Regeln hat man in exemplarischen Stammformen von Verben in einer Tabelle dargestellt. Und heute noch gibt es dieses eher komplizierte Hilfsmittel, das man Studierenden an die Hand gibt, um das Zentrum des Satzes, also das Verb, verständlich zu machen.
Je nachdem, wie groß der Abstand zur Gegenwartssprache ist, kann das Erkennen des Verbs schon eine ganz schöne Hürde bilden. Das wird von Lehrenden oft unterschätzt. Und die herkömmliche Tabelle hilft da den meisten Studierenden nicht, weil sie das Hilfsmittel nicht verstehen. Das liegt auch daran, dass die Art der Darstellung nicht mehr zeitgemäß ist. Die Tabelle sorgt deshalb mehr für Verwirrung, als dass sie beim Verstehen der Formen hilft. Und in der Lehre braucht es viel zu viel Zeit, die Tabelle zu erklären. Auch E-Learning-Tools, die immer wieder dasselbe zum Ausgangspunkt haben, nämlich die herkömmliche Tabelle, helfen oft nicht wirklich weiter. Man kommt deshalb nicht mehr zum Wesentlichen, nämlich zu den Inhalten der Texte.
Berücksichtigen muss man auch, dass wir heute natürlich eine Studierendenschaft haben, die sehr divers ist, und ganz unterschiedliche Voraussetzungen mitbringt. Und dem muss ich irgendwie gerecht werden. Da muss ich Wege finden, um für möglichst viele diese Hürde überschreitbar zu machen. Ich muss sozusagen eine Brücke bauen, die es ermöglicht, über die Hürde zu gehen.
Damit kann man schnell und erfolgreich arbeiten.
Dorothee Lindemann
Wie sieht ihre Lösung für diese Hürde aus?
Ich überarbeite gerade in Zusammenarbeit mit meiner Kollegin Simone Schultz-Balluff von der Universität Halle ein Lehrbuch für das Mittelhochdeutsche, das vor etwa 15 Jahren in Bochum entstanden ist. Bei der Neubearbeitung liegt die Darstellung der Verbflexion in meinem Aufgabenbereich. Und ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, die Verbflexion und die Tabelle für die Studierenden verständlich zu beschreiben. Ich habe die Art des Vokalwechsels und die Regeln in Worte gefasst und habe am Ende immer eine ganz einfache Operation beschrieben. So nach dem Motto, wenn im Präteritum die Form so und so lautet, dann musst du einfach aus dem Muster den Vokal nehmen und dann hast du den Infinitiv. Und dann verstehst du das Verb entweder, weil es das im Neuhochdeutschen noch gibt, oder du kannst das im Wörterbuch nachschlagen.
Und als ich das geschrieben habe, fragte ich mich, warum machst du daraus eigentlich nicht etwas Neues? Brauchen wir überhaupt diesen alten Ansatz mit der Übersicht von allen möglichen Formen? Oder können wir nicht einfach diese Vokalwechsel in eine alphabetische Reihenfolge bringen und immer dem jeweiligen Vokal das zuordnen, was rauskommt? Und was rauskam, war eine unglaublich übersichtliche Tabelle, die einfach nur die Vokale des Präteritums den Vokalen des Infinitivs paarweise gegenüberstellt.
Daraus wird sofort transparent, wie ein Infinitiv lautet. Damit kann man schnell und erfolgreich arbeiten.
Was bedeutet das für das Studium der Germanistik und für die Studierenden?
Ich glaube, dass ein Angstfaktor weggenommen wird. Man muss sich mal in die Studienanfängerinnen und Studienanfänger hineinversetzen. Es gibt bisher ein sogenanntes Hilfsmittel, mit dem auch in Klausuren Aufgaben gelöst werden können. Aber wenn das Instrument nicht verstanden wird, wie soll es den Studierenden dann helfen?
Während ich jetzt ein Instrument habe, bei dem ich ihnen sagen kann: Das kannst du verstehen. Und damit sind einfach die Chancen der Studierenden größer.
Dieses Instrument kann den Blick öffnen. Nicht nur für die Eigenheiten der Flexion, sondern vor allem auch für die Struktur von Sätzen. Weil es nämlich die Verbform erkennbar und damit das Zentrum des Satzes erfassbar macht.
Es hat auf Anhieb wunderbar geklappt.
Dorothee Lindemann
Gibt es schon Reaktionen von Studierenden zu dem neuen Hilfsmittel?
Die neue Tabelle wurde in Bochum und in Halle in allen Grundkursen ausprobiert, das waren etwa 500 Studierende. Es hat auf Anhieb wunderbar geklappt. Ich habe in unserer Vorlesung auch eine Befragung über Moodle gemacht, wie die Studierenden das bewerten, also ob das neue Instrument für sie hilfreich ist.
Über 50 Prozent der Studierenden haben bei der Befragung mitgemacht. Von denen haben wiederum über 50 Prozent die neue Tabelle bei einer Bewertung auf einer Skala von 1 bis 5 mit den beiden höchsten Punktzahlen als sehr hilfreich eingeordnet. Und weitere 40 Prozent kamen zur Bewertung hilfreich. Und das zeigt den Unterschied zum alten Hilfsmittel, zur alten Ablauttabelle, die nur von wenigen verstanden wurde.