
Streitgespräch Pokémon Go: Gefährlich, nützlich, vergänglich?
An dem Handyspiel spalten sich die Geister. Wir haben einen Suchtexperten und einen Mediendidaktiker dazu befragt. Zwei Menschen, zwei Meinungen – manchmal auch nur eine.
Am 17. August 2016 haben wir einen Artikel über die Gefahren des Spiels „Pokémon Go“ veröffentlicht, basierend auf einer Einschätzung von Dr. Bert te Wildt, Leiter der Medienambulanz an einer der Unikliniken der RUB. Der Beitrag löste prompt Reaktionen aus. Christian Kißler, RUB-Student und Dozent für Mediendidaktik, meldete sich mit alternativen Ansichten bei der Redaktion. Wir haben die beiden an einen Tisch gebracht.
Herr te Wildt, als Experte für Internetsucht haben Sie uns im August eine Einschätzung zu den Gefahren von Pokémon Go geliefert. Haben Sie das Spiel eigentlich selbst schon einmal gespielt?
Bert te Wildt: Ja. Ich habe es auf meinem Smartphone installiert, auch wenn ich in meiner Freizeit kaum Zeit habe, viele Spiele zu spielen. In der Klinik begegnen mir ständig Menschen, die internetabhängig sind, die meisten von Online-Computerspielen. Es gehört für mich daher zu meiner Arbeit dazu, mich mit diesen Spielen zu beschäftigen. Ich spiele sie an oder sehe mir Let’s-Play-Videos an [in denen ein Computerspiel vorgeführt und kommentiert wird, Anmerkung der Redaktion].
Ich hätte mir nichts sehnlicher gewünscht, als durch die Welt zu gehen und Pokémon zu finden.
Christian Kißler
Ihr Interesse an Pokémon Go ist deutlich größer, Herr Kißler.
Christian Kißler: Ich bin 25 Jahre alt und damit nur fünf Jahre älter als Pokémon; ich kann mich also kaum an eine Zeit ohne Pokémon erinnern. In der zweiten Klasse hatte ich es als Gameboyspiel und hätte mir nichts sehnlicher gewünscht, als durch die Welt zu gehen und Pokémon zu finden. Daher habe ich lange auf Pokémon Go hingefiebert.

Herr te Wildt, Sie vertreten die Ansicht, dass Pokémon Go wegen der Kombination aus Jagen und Sammeln so faszinierend ist. Wie sehen Sie das, Herr Kißler?
Kißler: Diese Erklärung reicht für mich nicht aus, weil es auch andere Spiele gibt, die auf Jagen und Sammeln basieren. Sie haben aber nicht diesen durchschlagenden Erfolg.
Für viele ist das Spiel ein spät erfüllter Kindheitstraum.
Christian Kißler
Kißler: Meiner Meinung nach spielt man Pokémon Go insbesondere deshalb, weil man Pokémon und nichts anderes als Pokémon sammeln will. Viele Spieler sind heute 20 bis 30 Jahre alt; sie sind wie ich mit Pokémon aufgewachsen. Für sie ist das Spiel ein spät erfüllter Kindheitstraum. Das lese ich sehr häufig in Pokémon-Gruppen in den sozialen Medien.
Te Wildt: Ich würde den riesigen Erfolg schon auch jenseits der Pokémon sehen. Es gibt Erwachsene in meinem Alter – ich bin jetzt 46 –, die ohne Pokémon aufgewachsen sind, und sie sind fasziniert von dem Spiel. Das Besondere ist in meinen Augen, dass es das erste massentaugliche Augmented-Reality-Spiel ist. Aber der Hype wird auch wieder vorbeigehen.
Kißler: Ich denke, die echten Pokémon-Fans werden aber dabei bleiben. Angeblich sind erst zehn Prozent von dem veröffentlicht, was das Spiel ausmachen soll. Vermutlich gibt es zwei Arten von Spielern. Diejenigen, für die Pokémon Go ein spät erfüllter Kindheitstraum ist und die den Hype ausgelöst haben. Und diejenigen, die auf den Hype aufgesprungen sind. Letztere werden vielleicht wieder abspringen. Für sie könnte auch das Jagen und Sammeln die Faszination ausmachen.

Möglicherweise treffen also beide Theorien zum Ursprung der Pokémon-Go-Faszination zu. Fest steht: Die Faszination ist groß. Wie viel Pokémon Go am Tag ist normal, wie viel bedenklich?
Te Wildt: Ich mag den Begriff Normalität nicht. Aufgrund einer Dosis kann man niemals eine Sucht diagnostizieren. Wenn mich jemand fragt, ob er süchtig ist, weil er vier bis fünf Stunden Pokémon Go am Tag spielt, muss ich sagen: keine Ahnung. Da muss ich viel mehr Fragen stellen. Entscheidend ist, inwieweit das Spielen mit anderen Bereichen des Lebens kollidiert. Ich halte das Suchtpotenzial des Spiels aber für relativ gering.
Allgemein diskutiert werden auch positive Seiten von Pokémon Go, zum Beispiel ob das Spiel Menschen in Bewegung bringt.
Te Wildt: Ich habe schon Kinder und Jugendliche gesehen, die wegen des Spiels durch die Landschaft gepest sind. Solange sie sich und andere dabei nicht in Gefahr bringen, ist das ja durchaus positiv. Meine Beobachtung in den Parks ist allerdings, dass viel Zeit mit Herumsitzen und Warten verbracht wird.
Selbst wenn die Spieler sich nicht bewegen, sind sie zumindest draußen.
Christian Kißler
Kißler: Tatsächlich kann man das Spiel gar nicht spielen, wenn man sich nicht bewegt. Man muss Eier ausbrüten, und das geht nur, wenn man eine gewisse Anzahl von Kilometern zurücklegt. Selbst wenn die Spieler sich nicht bewegen, sind sie zumindest draußen. Viele säßen sonst zu Hause am Computer.
Ich glaube, dass das Spiel bald kein großes Thema mehr sein wird.
Bert te Wildt
Te Wildt: Das mag sein. Persönlich kann ich allerdings nicht so viel damit anfangen, wenn Erwachsene kleine Monster jagen, auch wenn ich in individuellen Fällen die Leidenschaft durchaus nachvollziehen kann. Wenn ich mir vorstelle, daraus würde nachhaltig eine Massenbewegung, hätte ich Sorge, dass wir auf eine Infantilisierung hinsteuern. Aber das sehe ich auch gar nicht. Ich glaube, dass das Spiel bald kein großes Thema mehr sein wird. Virtual Reality ist die große Zukunft.
Kißler: Ich glaube sehr wohl, dass das Spiel noch länger ein Thema sein wird. Allerdings ist auch denkbar, dass das jetzige Pokémon Go durch eine technisch deutlich überarbeitete Version abgelöst wird.
Klar ist, digitale Medien sind aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Kindergartenkinder können oft schon mühelos mit Smartphone und Tablet umgehen. Was ist ein sinnvolles Einstiegsalter für die Techniken?
Kißler: Ein konkretes Alter anzugeben, ist nicht sinnvoll. Als Erziehungswissenschaftler glaube ich an die Heterogenität der Menschen. Der eine Dreijährige ist nicht wie der andere Dreijährige.
Wie bei anderen Suchtmitteln sind das Übermaß und der frühe Konsum für eine Suchtentwicklung entscheidend.
Bert te Wildt
Te Wildt: Als Therapeut und Mediziner plädiere ich dafür, zumindest eine Haltung zu haben, ab wann die eigenen Kinder mit den digitalen Medien umgehen sollten. Wie bei anderen Suchtmitteln sind das Übermaß und der frühe Konsum für eine Suchtentwicklung entscheidend. Allerdings macht es keinen Sinn, die Hardware – also das Smartphone oder Tablet – selbst als Suchtmittel zu verstehen. Sie sind wie das Glas für den Alkohol. Bestimmte Anwendungen im Internet machen süchtig, aber eben nicht alle.
Wenn Kinder früh mit den digitalen Medien in Berührung kommen, beherrschen sie Technik und Medien später wie ihre Muttersprache.
Christian Kißler
Kißler: Man muss auch bedenken, dass solide EDV-Kenntnisse heute für Bildung, Berufseinstieg und Berufsalltag unerlässlich sind. Wenn Kinder früh mit den digitalen Medien in Berührung kommen, beherrschen sie Technik und Medien später wie ihre Muttersprache. Natürlich kommt es auf das richtige Maß an.
Wenn Leute sagen, man sollte gleich in der Wiege mit den digitalen Medien anfangen, halte ich das für gefährlich.
Bert te Wildt
Te Wildt: Ich würde trotzdem dazu raten, dass Kinder erst einmal lesen, schreiben und auch fantasieren lernen, bevor sich die bunten verführerischen Medien zu früh wie ein Film über den Alltag legen. Dann ist die Gefahr, dass jemand davon abhängig wird, sehr gering. Wenn Leute sagen, je früher, desto besser, gleich in der Wiege mit den digitalen Medien anfangen, halte ich das für gefährlich. Eine ultimative Antwort auf die Frage nach dem richtigen Einstiegsalter gibt es aber bislang nicht.
Und was sagen Sie Eltern und Lehrern, die danach fragen?
Te Wildt: Dann sage ich zum Beispiel: Ich persönlich würde die digitalen Medien erst ab der dritten Klasse einsetzen. Das achte Lebensjahr ist – so sagen es einige Pädagogen – das Alter, in dem Kinder sicher zwischen Fiktion und Realität unterscheiden können. Das könnte eine Möglichkeit sein.
Kißler: Diese Formulierung halte ich für sehr sinnvoll, also eine Möglichkeit anzubieten. Das wird der Heterogenität der Menschen eher gerecht. Die große pädagogische Leistung ist es schließlich, sich situativ korrekt zu verhalten. Man muss auf jeden Fall auf die individuellen Bedürfnisse eines jeden Kindes schauen.
Te Wildt: Wenn man allerdings nur den Bedürfnissen der Kinder nachgeht, hat man kaum eine Chance gegen das, was die digitalen Medien heute anbieten. Da kommt die Realität nicht mehr mit. Die meisten Kinder würden sich auch allein von Süßigkeiten und Fastfood ernähren, wenn man sie ließe.
Kißler: Sich am Kind zu orientieren, heißt natürlich nicht, alles zu machen, was es will. Es ist wichtig, die Ansprüche der Erziehenden mit den Bedürfnissen des Kindes überein zu bringen. Genauso wie es wichtig ist, dass Menschen Ideen einbringen, kritisieren und zur Diskussion anregen.
Te Wildt: Und dass Leute wie wir uns zusammensetzen, im Zweifelsfall trefflich streiten, um dann festzustellen: So weit liegen wir vielleicht gar nicht auseinander.