Kriminologie So sicher fühlen sich die Bürger einer Großstadt
Wie viel Angst Großstadtbewohner vor Verbrechen haben und welche Maßnahmen sie zu ihrer eigenen Sicherheit ergreifen, zeigt eine Bochumer Langzeitstudie. Sie fördert das ein oder andere Paradoxon zutage.
Nachts zu Fuß unterwegs auf einer schwach beleuchteten Straße in einer fremden Stadt umgeben von unbekannten Gesichtern – da stellt sich bei vielen Menschen ein mulmiges Gefühl ein. Viel wohler ist es den meisten in ihren eignen vier Wänden.
Betrachtet man die polizeiliche Kriminalstatistik, ist das kein rationales Empfinden. So lautet eines von vielen Ergebnissen einer Langzeitstudie, die Kriminologen der Ruhr-Universität in den vergangenen 40 Jahren in Bochum durchgeführt haben.
Irrationale Sicherheitsgefühle
Zwischen 1975 und 2016 befragten sie Bürgerinnen und Bürger viermal zu ihren Erfahrungen mit Kriminalität und Polizei sowie zu ihren Ängsten. Die Resultate verglichen sie mit tatsächlichen Opferzahlen, um Aussagen zum Dunkelfeld der Kriminalität machen zu können.
Menschen fühlen sich in ihrer eigenen Wohnung am sichersten, obwohl das der unsicherste Ort überhaupt ist.
Thomas Feltes
Eines der Hauptergebnisse, das sich über den gesamten Untersuchungszeitraum abzeichnet, ist die wenig rationale Gefahreneinschätzung der Befragten. „Menschen fühlen sich in ihrer eigenen Wohnung am sichersten, obwohl das der unsicherste Ort überhaupt ist“, sagt Prof. Dr. Thomas Feltes, Leiter des Lehrstuhls für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft.
Bekannte und Verwandte als Täter
„In den eigenen vier Wänden wird man viel häufiger Opfer als auf Straßen, Wegen und Plätzen“, erzählt Feltes. Die Hauptgefahren sind häusliche Gewalt, sexueller Missbrauch und vor allem Unfälle.
Ein paar Zahlen verdeutlichen dies: Allein 9.000 Deutsche starben im Jahr 2014 an Haushaltsunfällen. 624 kamen durch Mord und Totschlag ums Leben, wobei in 90 Prozent der Fälle Verwandte oder Bekannte die Täter waren. 3.500 Menschen fielen im selben Zeitraum Verkehrsunfällen zum Opfer.
Die empfundene Sicherheit in der eigenen Wohnung passt nicht mit der realen Sicherheitslage zusammen. Ein Phänomen, das sich über Jahrzehnte hinweg in der Befragung zeigte. Als ebenso konstant erwies sich eine übermäßige Verbrechensfurcht der befragten Personen. Viel mehr Menschen gehen davon aus, eine Straftat zu erleiden, als tatsächlich Menschen Opfer werden.
Im Jahr 2016 gaben rund 21 Prozent der Befragten an, dass sie es für wahrscheinlich halten, im kommenden Jahr selbst Opfer einer Körperverletzung zu werden; 19 Prozent befürchteten, beraubt zu werden. Tatsächlich wurden nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr jedoch nur 1,6 beziehungsweise 0,3 Prozent der Befragten Opfer einer solchen Straftat.
German Angst
Laut Thomas Feltes eine typisch deutsche Erscheinung. „Im internationalen Vergleich erzielen die Bundesbürger immer sehr hohe Werte bei der Verbrechensfurcht“, weiß der Kriminologe. „Auch heute noch, obwohl es noch nie so sicher war, in Deutschland zu leben, wie jetzt – sowohl regional als auch historisch betrachtet. Die German Angst ist weithin bekannt.“
Als Ursache vermutet der Kriminologe, dass die Bevölkerung derzeit generell verunsichert ist. Durch den Terrorismus, aber auch durch die Globalisierung, die Probleme in weit entfernten Ländern plötzlich vor die eigene Haustür rücken lässt. Hinzu komme, dass die Menschen die Sozialsysteme für Rente und Gesundheitsversorgung zunehmend als unzureichend wahrnähmen und dass Europa vom Zerfall bedroht sei.
„Diese Dinge sind aber nicht greifbar, also bildet sich die Verunsicherung im Bereich Kriminalität ab“, schlussfolgert Feltes.
Passend zu den oben beschriebenen Ergebnissen schätzte ein Großteil der Studienteilnehmer, dass die Kriminalität bundesweit sowie in der eigenen Wohngegend in den vergangenen fünf Jahren zugenommen habe. Rund 70 Prozent vermuten etwa, dass Einbrüche in ihrem Viertel häufiger geworden seien; 1998 sagten das nur 35 Prozent.
Feltes’ Team wird die Resultate mit tatsächlichen Opferzahlen in verschiedenen Bochumer Wohngebieten vergleichen, um herauszufinden, ob die Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger einen realen Hintergrund hat.
Die gestiegene Angst vor Einbrüchen könnte auch medial bedingt sein.
Thomas Feltes
Während die Kriminalität in Bochum im Vergleich zu 1998 um 6,7 Prozent angestiegen ist, ist sie deutschlandweit in dieser Zeit um knapp zwei Prozent zurückgegangen. „Die gestiegene Angst vor Einbrüchen könnte auch medial bedingt sein“, erklärt Feltes. „Denn zuletzt wurde ständig über den Anstieg der Wohnungseinbrüche berichtet.“
Bochumer ergreifen Maßnahmen
Auffällig in den Daten war, dass die Einwohnerinnen und Einwohner Bochums vermehrt Maßnahmen ergreifen, um sich und ihr Eigentum zu schützen. Knapp 43 Prozent gaben an, besondere Tür- und Fenstersicherungen in der Wohnung installiert zu haben, 24 Prozent besitzen Waffen wie Elektroschocker oder Pfeffersprays und etwa die Hälfte der Befragten weicht herumstehenden Jugendlichen aus. Im Vergleich zur 1998er-Umfrage sind all diese Werte gestiegen.
2016 ist möglicherweise kein repräsentatives Jahr.
Thomas Feltes
„Allerdings ist zu beachten, dass 2016 möglicherweise kein repräsentatives Jahr ist“, gibt Thomas Feltes zu bedenken. Die aktuelle Debatte um Zuwanderung und Integration sowie die gestiegene Angst vor Terroranschlägen könnten einen Einfluss auf die Antworten ausgeübt haben. „Unsere Studie zeigt aber auch, dass die Bochumer Bürger beim Thema Ausländer relativ gelassen sind“, so der Forscher.
Denn gefragt nach Problemen im eigenen Wohngebiet benannten lediglich 20 Prozent zu viele Asylbewerber und 18 Prozent zu viele Ausländer. „Das ist zwar etwas mehr als 1998, aber unter Berücksichtigung der aktuellen politischen Diskussion relativ wenig“, so Feltes. Zum Vergleich: 34 Prozent empfinden undisziplinierte Autofahrer als großes Problem in ihrem Viertel.
Variierende Dunkelziffern, mehr Strafanzeigen
Ein weiterer Bereich der Bochumer Studie widmete sich dem Dunkelfeld der Kriminalität. Von 1975 bis 1998 stieg die Anzahl der polizeilich registrierten Straftaten in Bochum an. Allerdings nicht nur, weil tatsächlich mehr Straftaten begangen wurden. Dreiviertel des Anstiegs erklärten sich dadurch, dass die Bürger häufiger Anzeige erstatteten.
Diese Entwicklung ist auch nach 1998 noch zu erkennen. Die Wissenschaftler fanden in ihren Daten eine Tendenz zu abnehmenden Dunkelziffern für einfache Diebstähle. Laut 2016er-Umfrage kommen auf jeden von der Polizei registrierten einfachen Diebstahl etwa drei tatsächlich begangene Taten; 1998 betrug das Verhältnis noch eins zu acht. Dieser Trend zeichnet sich auch bei Körperverletzungen ab, die Bürger heute häufiger anzeigen als vor acht Jahren. Für schwere Diebstähle blieb die Dunkelziffer seit 1998 konstant: Von drei Taten werden zwei nicht angezeigt.
Bei einem Vergleich der aktuellen Ergebnisse zu den Vorjahren lässt Thomas Feltes jedoch Vorsicht walten. Eine statistische Analyse, ob die Unterschiede signifikant sind, hat sein Team bislang nicht durchgeführt – und wird es möglicherweise auch nicht tun können. Denn die Untersuchungsmethoden haben sich über die Jahre geändert, und die Datensätze sind nicht direkt vergleichbar.
Anders als bei Wahlprognosen
Für die Bochumer Studie wurden 3.500 zufällig ausgewählte Bochumer Bürgerinnen und Bürger angeschrieben; 732 von ihnen machten mit. Damit hat die Studie mit knapp 23 Prozent eine ähnliche Teilnahmequote wie Prognosen für den Ausgang der Bundestagswahl, für die jeweils 1.000 Menschen interviewt werden.
Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied. „Da nur 15 Prozent der Befragten angaben, Opfer eines Verbrechens geworden zu sein, ist es methodisch schwierig, Aussagen über einzelne Altersgruppen zu treffen“, sagt Feltes.
Nicht bezahlbar
Eine größere Umfrage wäre ein Traum der Kriminologen. Aber sie selbst zu organisieren, wäre nicht zu bewerkstelligen. Bei externen Einrichtungen wie dem Meinungsforschungsinstitut Emnid können Wissenschaftler zwar Fragen für repräsentative Erhebungen platzieren. Allerdings kostet dieser Service mehrere Tausend Euro pro Frage. Die Bochumer Studie hätte auf diesem Weg eine Viertelmillion verschlungen. Nicht bezahlbar für die Kriminologen.
Aber die aktuelle Umfrage liefert ebenfalls viele wertvolle Erkenntnisse, die in Bochum direkt in die Praxis einfließen sollen. Denn die Forscher fragten in ihrer Studie auch nach dem Image der örtlichen Polizei. Im Vergleich zu den Vorjahren fielen die Noten für die Beamten dabei ein wenig schlechter aus.
Schlechtere Noten für die Bochumer Polizei
Während 1998 noch gut 80 Prozent der Befragten angaben, die Polizei habe sie bei der Anzeige einer Straftat mitfühlend behandelt, sanken die Zahlen 2016 auf 58 Prozent. Noch drastischer war der Abfall bei der Frage „Hatten Sie das Gefühl, dass die Polizei wirklich versucht, die von Ihnen angezeigte Straftat aufzuklären?“. Hier rutschten die Werte von 87 auf 27 Prozent.
„Die Bochumer Polizei nimmt die Ergebnisse sehr ernst“, sagt Thomas Feltes. Gemeinsam mit den Wissenschaftlern wolle man sich die Daten detaillierter ansehen und den Ursachen auf den Grund gehen.
Theorien gibt es bereits. So könne die aktuell starke Belastung der Beamten eine Rolle spielen oder das bundesweit schlechte Image, das in den Medien verbreitet wird, vermuten die Kriminologen der RUB. Feltes ergänzt: „Möglicherweise schätzen die jungen Beamten die Chancen, eine Straftat aufzuklären, heute auch realistischer ein und geben diesen Eindruck an die Betroffenen weiter.“
Abends ausgehen
Fest steht auf jeden Fall, dass die Bochumer Bürger in einem verhältnismäßig sicheren Umfeld wohnen. Passend dazu sehen die Kriminologen auch eine positive Entwicklung in ihren Daten. Verglichen mit 1998 bleiben heute weniger Bochumer abends aus Angst vor Kriminalität zu Hause. Immerhin das scheint ein rationales Verhalten im Hinblick auf die tatsächliche Gefahrenlage zu sein.