Religionswissenschaft „Die etablierten Kirchen müssen sich verändern“
Die Reformation hat vor 500 Jahren die Kirchenlandschaft durcheinandergewirbelt. Auch jetzt wäre es an der Zeit für Veränderungen, meint Religionssoziologin Maren Freudenberg.
Was verbinden Sie mit Martin Luther?
Ungewollt hat er mit anderen einen neuen christlichen Glaubenszweig geschaffen: den Protestantismus. Erstmals gab es damit eine Alternative zur römisch-katholischen Kirche in Europa. Im Zeitalter der Reformation entstanden verschiedene protestantische Strömungen – einige von ihnen fast basisdemokratisch organisiert. Dieser Wechsel von den Hierarchien des Katholizismus zu einer Gemeinschaft von zumindest formell gleichberechtigten Gläubigen ist in seiner gesellschaftlichen Wirkung nicht zu unterschätzen: Es waren Protestanten, die die erste neuzeitliche Demokratie begründeten, die USA.
Was war Ihrer Meinung nach die bedeutendste Folge der Reformation, die unsere Gesellschaft heute noch prägt?
Die Reformation hat das ohnehin weltweit bunte religiöse Feld ausgeweitet: Im europäisch geprägten Christentum entwickelten sich ganz verschiedene protestantische Gruppen. Als protestantische Siedler gelangten sie ab dem 17. Jahrhundert nach Nordamerika. Aus ihnen ging eine Vielzahl neuer Religionsgruppen hervor. Zu ihnen gehören zum Beispiel die Mormonen, die Zeugen Jehovas und auch Teile der New-Age-Bewegung. Vor der Reformation waren die Möglichkeiten, den Glauben neu auszulegen oder abzuwandeln im römischen Christentum nicht gegeben – oder wenn, blieben entsprechende Versuche in ihrer Umsetzung erfolglos.
Erfolgreich sind Kirchen, die mehr Teilhabe und Gestaltungsspielraum bieten.
Was glauben Sie, wie sich die christliche Kirche in Zukunft verändern wird?
Die etablierten und hochgradig institutionalisierten Amtskirchen werden sich verändern müssen – oder das Nachsehen haben. Das Beispiel USA zeigt: Erfolgreich sind Kirchen, die mehr Teilhabe und Gestaltungsspielraum bieten. Evangelikale, charismatische Kirchen unterschiedlicher Couleur locken weltweit mit erfahrungsorientierten und emotionalen Gottesdiensten. Sie ermöglichen jedem und jeder Gläubigen eine direkte Beziehung zu Gott. Dabei spielen systematische Theologien eine untergeordnete Rolle. Die vergleichsweise rationale und bürokratische deutsche Kirchenkultur wird Gläubigen mehr Gestaltungsmacht sowie persönliche Gotteserfahrungen bieten müssen, um nicht weiter Mitglieder zu verlieren.