Der Sound im Radio änderte sich nach Kriegsende in Deutschland merklich.
© Fotolia, calvinbenedict

Literaturwissenschaft Der Sound der Demokratie

Warum die Literatur der Bundesrepublik ihre Wurzeln in amerikanischen Gefangenenlagern hat und Nachrichtensprecher so sprechen, wie sie sprechen.

Deutschland, 1945: Der Krieg ist aus, die Nationalsozialisten nicht länger an der Macht. Erleichterung unter den Schriftstellern, die während der Diktatur nicht veröffentlichen durften? „Es war nicht so, dass man nun die Schubladen öffnete, und es quollen die Manuskripte hervor“, sagt Dr. Cornelia Epping-Jäger.

Die Mitarbeiterin im Projekt „Hörsäle der Literatur. Die sonore Inszenierung des Literarischen in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur“ hat sich auf die Spuren derer begeben, die Literatur und Medien in der Zeit nach 1945 prägten, teils bis heute prägen. „Viele Schriftsteller hatten während des Kriegs gar nicht geschrieben und wussten nun nicht wie. Man muss sich bewusstmachen, dass die Literaten in der frühen Nachkriegszeit grundsätzlich verunsichert waren und noch nicht wussten, wie sich der ‚neue Ton‘, der allenthalben von der Literatur gefordert wurde, anhören sollte“, sagt sie.

Verunsicherung unter den Autoren

Ein Ausdruck dieser Verunsicherung war, dass Schriftsteller ihre Werke vor der Veröffentlichung untereinander eingehend diskutierten. Ein wichtiges Forum dafür war die sogenannte Gruppe 47, die sich auf Einladung von Hans Werner Richter zu Lesungen traf. Aber auch in Zeitschriften und im Rundfunk fand Literatur plötzlich statt, anders als in der Zeit vor dem Krieg und währenddessen.

Gruppe 47

Auf Einladung des Schriftstellers Hans Werner Richter trafen sich ab 1947 Autoren, um über ihre noch unveröffentlichten Werke zu diskutieren. Nur geladene Gäste durften zu den Treffen kommen. In den folgenden Jahren wurden auch mehr und mehr Kritiker und andere im Literaturbetrieb tätige Akteure eingeladen, sodass sich der Kreis zunehmend professionalisierte. Dadurch wurde die Einladung für Literaturschaffende attraktiver, da sich eine Art Börse bildete; andererseits verlor die Gruppe ihren ursprünglichen Charakter.

1967 fand ein letztes Treffen statt. Unter den Mitgliedern der Gruppe 47 waren unter anderen Paul Celan, Ingeborg Bachmann, Marcel Reich-Ranicki, Günter Grass und Martin Walser.

„Nach 1945 hat sich die Medienlandschaft in Deutschland grundlegend verändert“, erklärt Cornelia Epping-Jäger. Es wurden zahlreiche neue Zeitschriften gegründet, in denen Literatur veröffentlicht wurde, weil für den Buchdruck noch nicht ausreichend Papier vorhanden war. Schriftsteller arbeiteten zugleich vielfach auch als Journalisten für Zeitungen und für den Rundfunk. Hörspiele im Radio hatten bis in die 1970er-Jahre ein riesiges Publikum.

Auf der Suche nach den Faktoren, die zu dieser Entwicklung geführt haben, besuchten Cornelia Epping-Jäger und ihre Kolleginnen des Forschungsprojekts viele Archive, sichteten private Nachlässe und arbeiteten mit Rundfunkarchiven. Die Wurzeln eines wichtigen Teils der Literatur der Bundesrepublik fanden sie in Amerika. „Es ist auffällig, dass fast alle anfänglichen Mitglieder der Gruppe 47 während des Krieges in amerikanischen Kriegsgefangenenlagern waren“, erzählt Cornelia Epping-Jäger.

Angeklickt

„Die neue Gattung des Radio-Features ist ein Paradebeispiel für die von den Alliierten nach Deutschland gebrachte Vielstimmigkeit“, freut sich Cornelia Epping-Jäger. Gemeinsam mit der Redaktion des WDR hat sie ein einstündiges Radio-Feature erarbeitet mit dem Titel „Der neue Ton – Reeducation für Nazideutschland“. Neben Originalaufnahmen aus der Nachkriegszeit bindet das Feature auch Aufnahmen von Schauspielern ein. Es wird am 5. Oktober 2019 ab 12.04 Uhr im WDR3 gesendet und ist danach noch einige Zeit online abrufbar.

Die Amerikaner schmiedeten schon 1944 Pläne für Deutschland nach dem Krieg. Die große Frage war: Wie geht man am besten mit den Deutschen um, durch deren Aggressivität es zum Krieg gekommen war? Auf Konferenzen mit Teilnehmern aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen kam man zu dem Schluss: besser nicht hart bestrafen, das weckt nur neue Aggressionen, man wollte aber Zusammenarbeit. Der Weg, den man wählte, hieß Reeducation: Man wollte die Institutionen umbauen, weg von Befehl und Unterordnung, und man wollte vertrauenswürdige Deutsche, die keine Nazis gewesen waren, fit machen für die Demokratie und in einflussreiche Positionen in Deutschland bringen.

Vertrauenswürdige Deutsche ordnen die Medienlandschaft neu

In den Kriegsgefangenenlagern ergründeten die Amerikaner also per Fragebogen und Interviews die Gesinnung der ehemaligen Soldaten. Wer sich als vertrauenswürdig erwies – darunter auch Hans Werner Richter, Alfred Andersch und andere spätere Mitglieder der Gruppe 47 – wurde besonders ausgebildet, zum Beispiel in den Techniken des Zeitungsmachens, in Mikrofonsprechen. Die Auserwählten gründeten schon in der Gefangenschaft Zeitschriften wie „Der Ruf“, dessen Nachfolger ab 1946 auch in Deutschland als „Unabhängige Blätter einer jungen Generation“ erschien.

Außer unter Kriegsgefangenen rekrutierten die Amerikaner ihre Vertrauensleute auch unter teils jüdischen Emigranten aus Deutschland, die inzwischen die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten hatten. Sie wurden unter anderem für Geheimdiensttätigkeiten ausgebildet, sollten aber auch die Medienlandschaft neu strukturieren. Unter ihnen war zum Beispiel Klaus Mann.

Der „unerlässlich ruhige Ton“

„Nach dem Krieg gingen diese Leute nach Deutschland zurück, gründeten Zeitungen und Zeitschriften, arbeiteten bei Radiosendern, wurden Literaten und erprobten neue Formen der Literatur und der Literaturvermittlung“, so Cornelia Epping-Jäger, die mit ihren Kolleginnen diese Lebenswege und Verflechtungen verfolgte. Sie führten den Deutschen vor Augen, was sie in den amerikanischen Reedecationcamps gelernt hatten: wie man diskutiert, ohne dass es einen Gewinner gibt, der alle anderen besiegt. Sie zeigten, wie Journalisten auf Augenhöhe mit Interviewpartnern sprechen und investigativ arbeiten können – eine Tradition, die in England seit jeher existierte, während Journalisten in Deutschland bis dahin eher unterwürfig auf Autorität reagiert und diese anerkannt hatten. Sie importierten die strikte Trennung zwischen Bericht und Meinung in die Medien.

Und sie prägten den „unerlässlich ruhigen Ton“, den wir noch heute von Nachrichtensprechern alter Schule kennen: möglichst emotionslos und neutral, eben nicht voller Pathos wie zur Zeit der Nationalsozialisten. „Man könnte sagen, das war der Sound der Demokratie“, fasst Cornelia Epping-Jäger zusammen.

Das Projekt

Das Projekt „Hörsäle der Literatur. Die sonore Inszenierung des Literarischen in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur“ wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft seit 2016 gefördert. Projektleiterin ist Prof. Dr. Natalie Binczek, Inhaberin des Lehrstuhls Neugermanistik I der RUB.

Veröffentlicht

Dienstag
01. Oktober 2019
09:16 Uhr

Von

Meike Drießen

Teilen