Serie Standpunkt
Prof. Dr. Sebastian Houben beschäftigt sich am Institut für Neuroinformatik mit Computersehen.
© Roberto Schirdewahn

Standpunkt Wenn Maschinen forschen

Lernende Computer werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht arbeitslos machen. Denn was ihnen fehlt, ist eine gesunde Portion menschlicher Skepsis.

Seit dem frühen 17. Jahrhundert ist Forschung ein Wechselspiel aus Vorhersage und Widerspruch. Die theoretische Forschung versucht, einen bisher unverstandenen Zusammenhang zu beschreiben und bedient sich dabei Analogien oder, wo möglich, mathematischer Modelle. Die experimentelle Forschung strebt danach, diese Beschreibung auf allgemeinere Fälle zu übertragen und zu bestätigen. Stimmen die Vorhersagen nicht mit den experimentellen Ergebnissen überein, so muss die theoretische Beschreibung angepasst oder ersetzt werden, und das Spiel beginnt von Neuem. Obgleich die Werkzeuge, mit denen wir Theorien entwickeln und testen, sich seitdem stark weiterentwickelt haben, hat sich an diesem Prinzip lange nichts geändert.

Mathematische Beschreibungen automatisch herleiten

Maschinelles Lernen ist ein etabliertes Gebiet der Informatik, hat aber vor allem in jüngerer Vergangenheit durch eine Reihe innovativer technischer Anwendungen weiträumigere Aufmerksamkeit erzeugt. Ziel ist es, mathematische Beschreibungen durch Analyse von Daten automatisch herzuleiten: Wie beschreibt man die Bildpunkte auf einem Kamerachip, wenn ein Verkehrszeichen, Fahrzeug, Radfahrer oder Fußgänger aufgenommen wird? Wie kann man die Schallwellen beschreiben, die aufgenommen werden, wenn jemand „Alexa“ oder „Ok, Google“ sagt? Wie beschreibt man die Wahrscheinlichkeit, eine Partie Go bei einer gegebenen Anordnung der Steine zu gewinnen?

Bedingt durch diese unseren Alltag durchziehenden neuen Programme betrachten wir Anwendungen des maschinellen Lernens häufig als intelligente Filter, Detektoren für wechselhafte und teilweise hochkomplizierte Muster, mit denen wir anstelle von Text nun auch andere Datenquellen wie Bild und Ton automatisch und effizient durchsuchen können. In der Tat können daher auch kleine Forschungsprojekte inzwischen Datenmengen erheben und verarbeiten, für die früher sehr viel mehr menschliche Routinearbeit nötig war, und somit weitreichendere und komplexere Zusammenhänge untersuchen.

Die Verfahren beschreiben, ohne zu verstehen.

Hierbei geht aber die wahre Bedeutung dieser Entwicklung über die öffentliche Wahrnehmung hinaus: Nicht nur können automatisch entwickelte hochdimensionale mathematische Beziehungen viel komplexer als bisher sein. Die Verfahren erlauben es auch, wenig konfidente, das heißt vermutlich schlecht vorhergesagte Fälle zu identifizieren und neue zu untersuchende Datenpunkte in Form von neuen Experimenten automatisch vorzuschlagen. Anders ausgedrückt können maschinelle Lernsysteme in beschränkten Fällen beide Seiten des Wechselspiels Forschung spielen: Vorhersage und Widerspruch.

Mitnichten sollten Wissenschaftler aber nach einem neuen Berufszweig Ausschau halten. Die von maschinellen Lernsystemen aufgedeckten Beziehungen können komplex, kaum nachvollziehbar oder andererseits schlicht falsch oder nicht verallgemeinerbar sein und entziehen sich derzeit noch unserer theoretischen Erklärung. Die Verfahren beschreiben, ohne zu verstehen. Eine gesunde Portion menschlicher Skepsis bleibt also auch weiterhin Grundlage jeder Wissenschaft.

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Veröffentlicht

Donnerstag
24. Oktober 2019
09:26 Uhr

Von

Sebastian Houben

Dieser Artikel ist am 4. November 2019 in Rubin 2/2019 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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