Belarus Was die Regierungsgewalt über bürgerliche und politische Rechte verrät
Und wie sich die Europäische Union in der Situation verhalten sollte.
Die vergangenen Wochen waren turbulent in Belarus. Das erste Mal in seiner 26-jährigen Amtszeit sieht sich Präsident Alexander Lukashenko mit einer echten Herausforderung für seine Macht konfrontiert. Als am Wahlabend des 9. August 2020 nach der Verkündung fragwürdiger Ergebnisse friedliche Proteste ausbrachen, begegnete die Polizei diesen mit schwerer Gewalt und zahlreichen Verhaftungen. Was diese Gewalt und die wahrscheinlich dahinterstehende Nervosität des Präsidenten angesichts eines möglichen Machtverlustes bedeutet, beleuchtet Prof. Dr. Pierre Thielbörger vom Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht, kurz IFHV, in einem Post auf der Plattform „Völkerrechtsblog“, veröffentlicht am 14. August 2020.
„Es ist unbestreitbar, dass die starken Repressionen der belarussischen Regierung gegen die Bevölkerung im Zusammenhang mit den Protesten nicht im Einklang mit internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen stehen“, schreibt Pierre Thielbörger. Es gibt ein grundlegendes Menschenrecht auf friedliche Versammlung, das es Individuen laut dem UN-Menschenrechtsausschuss ermöglichen soll, sich gemeinsam auszudrücken und an der Gestaltung ihrer Gesellschaft mitzuwirken. Wenn Staaten die Versammlungsfreiheit einschränken wollen, müssen sie dies rechtfertigen. Für die derzeitigen Einschränkungen in Belarus gebe es jedoch noch nicht mal einen legitimen Grund, so Thielbörger.
Menschenrechte in Belarus
„Der wirkliche Grund für die starken Repressionen ist wohl die Angst der Regierung vor Machtverlust“, so Thielbörger. Das sei gleichzeitig ein Beleg für das Empowerment-Potenzial der bürgerlichen und politischen Rechte.
Kollektive Erfahrungen lassen die Angst überwinden
Die Ausübung dieser Rechte ermöglicht es Menschen, Machthaber selbst in solchen Staaten zur Verantwortung zu ziehen, in denen demokratische Wahlen nicht möglich sind. Wenn Menschen ihre Ideen und Gefühle auf friedlichen Versammlungen gemeinsam zum Ausdruck bringen, können sie erfahren, dass sie nicht wenige, sondern viele sind. Diese kollektive Erfahrung lässt sie ihre Angst überwinden und befähigt sie, autoritäre Regierungen herauszufordern. „In den Wochen vor den Wahlen in Belarus ist genau das geschehen“, sagt Pierre Thielbörger. „Die Angst der Menschen nahm mit jeder Kundgebung ab, die die Oppositionskandidatin Svetlana Tikhanovskaya abhielt.“
Das Empowerment-Potential bürgerlicher und politischer Rechte wird noch größer, wenn über deren Ausübung berichtet wird. Daher erkennt der Menschenrechtsausschuss an, dass beispielsweise Journalisten, Menschenrechtsvertreter und Wahlbeobachter besonders wichtig sind. Dass es 2020 für ausländische Journalisten besonders schwierig war, eine Akkreditierung für Belarus zu bekommen, und dass keine Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zugelassen waren, kann laut Thielbörger als nervöse Reaktion der Regierung auf das Empowerment interpretiert werden, das durch Tikhanovskayas Kundgebungen und Proteste immer größer wurde.
Wie sich die EU verhalten sollte
Die Europäische Union hat das Wahlergebnis in Belarus nicht anerkannt und plant Sanktionen gegen die Personen, die für die Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind. „Es ist zwar wichtig, die Repressionen zu verurteilen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, aber noch wichtiger ist es, das Potenzial bürgerlicher und politischer Rechte zu erkennen und zu stärken“, sagt Pierre Thielbörger. „Die europäischen Staats- und Regierungschefs sollten daher die Unterstützung der Menschen zur Maxime ihres Handelns machen. Maßnahmen dürfen das Empowerment nicht ersticken, sie müssen es stärken.“
In der Vergangenheit haben Sanktionen häufig dazu geführt, dass Belarus näher an seinen Nachbarn Russland heranrückt.
Pierre Thielbörger
Der Weg in die Zukunft sei jedoch geopolitisch schwierig. „In der Vergangenheit haben Sanktionen häufig dazu geführt, dass Belarus näher an seinen Nachbarn Russland heranrückt, das bereits auf eine engere Integration mit Belarus drängt – darauf sollten die europäischen Staats- und Regierungschefs achten“, so Thielbörger.