Wissenschaft und Öffentlichkeit Einen wunden Punkt getroffen
Mit einem Zeitungsbeitrag zum Thema assistierter Suizid hat sich Theologin Isolde Karle viel Entrüstung eingehandelt, aber auch eine überfällige Debatte in Schwung gebracht.
Am 11. Januar 2021 veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) einen Beitrag von RUB-Theologin Prof. Dr. Isolde Karle, Prof. Dr. Reiner Anselm und Diakoniepräsident Ulrich Lilie. Der Beitrag wurde von Prof. Dr. Jacob Joussen (Juristische Fakultät Bochum und Mitglied im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, EKD), Prof. Dr. Friedemann Nauck (Palliativmedizin Göttingen) und Bischof Ralf Meister mitgezeichnet. Titel: „Den assistierten professionellen Suizid ermöglichen“. Das öffentliche Interesse war riesig und nicht nur angenehm. Isolde Karle berichtet über die Erfahrung.
Frau Prof. Karle, wie kam es zu diesem FAZ-Artikel?
Vor ungefähr einem Jahr hat das Bundesverfassungsgericht den Paragrafen 217 des Strafgesetzbuchs für nichtig erklärt: Er beinhaltete das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe. Zu Klagen war es gekommen, weil der Bundesgesundheitsminister diesen Paragrafen so interpretiert hatte, dass schon das Ausstellen eines Rezepts für ein tödliches Medikament durch einen Arzt oder eine Ärztin als strafbar galt. Deswegen war einem Suizidwunsch praktisch nie stattgegeben worden. Das Bundesverfassungsgericht rückte in seinem Urteil nun das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen auch und gerade im Blick auf das eigene Sterben und den eigenen Tod in den Mittelpunkt. Inzwischen ist das Urteil schon fast zwölf Monate alt, und es hat sich nichts getan: Der Gesetzgeber ist der Aufforderung des Verfassungsgerichts, ein neues Gesetz zu entwickeln, bislang nicht nachgekommen. Dadurch haben wir derzeit eine rechtsunsichere Lage.
Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland, nahm diese Situation zum Anlass, um mit einer Expertengruppe aus Theolog*innen, einem Juristen und einem Palliativmediziner zusammen zu überlegen, wie es weitergehen könnte. Denn diakonische Einrichtungen werden nach dem Urteil nicht darum herumkommen, dass auch von ihnen betreute Menschen Suizidhilfe in Anspruch nehmen wollen. Wie ist darauf zu reagieren? Soll man diese Menschen dann entlassen? Oder sie in eine Sterbehilfeorganisation überweisen nach dem Motto „nicht bei uns“? Als Seelsorgetheoretikerin halte ich das für nicht angemessen. Wir können Menschen nicht gerade dann alleine lassen, wenn sie in der größten Not sind. Deshalb haben wir über ein Verfahren für genau diese Situation nachgedacht.
Inzwischen hat sich die Diskussion aber deutlich versachlicht. Das ist sehr erfreulich.
Im Sommer 2020 hatten Jacob Joussen und ich schon einmal den Versuch unternommen, die Debatte in Gang zu bringen, indem wir einen Artikel in einer evangelischen Publikumszeitschrift veröffentlichten. Die anderen Mitautoren hatten in verschiedenen Gremien die Diskussion anzustoßen versucht – ohne große Resonanz. So sind wir an die FAZ herangetreten.
Was passierte dann?
Zuerst brach ein Sturm aus, damit hatten wir nicht gerechnet, und die FAZ vermutlich auch nicht. Bei vielen polemischen Reaktionen gewann man den Eindruck, dass die Menschen den Beitrag gar nicht gelesen hatten. Dass die Reaktionen, vor allem auch in den sozialen Medien, so emotional waren, lag sicherlich auch an der reißerischen Überschrift, die unsere Intention nicht wirklich wiedergab. Inzwischen hat sich die Diskussion aber deutlich versachlicht. Das ist sehr erfreulich. Der Konvent der Krankenhausseelsorge der EKD und viele andere haben unseren Vorstoß begrüßt.
Welche Argumente werden gegen Ihren Standpunkt vorgebracht?
Die Angst unserer Kritiker ist, dass, wenn man auch nur einen kleinen Schritt in Richtung Öffnung der Sterbehilfe geht, der assistierte Suizid zur Normalität werden könnte und am Ende auch eine Tötung auf Verlangen möglich ist. Wir sehen diese Sorge und nehmen sie ernst. Gerade deshalb betonen wir, dass Suizidassistenz nur ein Grenz- und Ausnahmefall sein kann. Wir haben ein Schutzkonzept entwickelt, das zunächst einmal der Suizidprävention dienen und vor allem verhindern soll, dass Menschen über eine Suizidassistenz nachdenken, weil sie den Eindruck haben, anderen zur Last zu fallen oder weil sie sich unter Druck fühlen. Zum Schutzkonzept gehört eine intensive medizinische Beratung, in der ein Arzt beziehungsweise eine Ärztin über die Möglichkeiten der palliativen Versorgung und des Therapieabbruchs informiert. Die meisten Palliativmediziner erzählen, dass sie den meisten Menschen durch eine solche Beratung die Angst vor dem Sterben nehmen können.
Ferner geht es uns um eine intensive seelsorgliche Begleitung, die ein offenes Ohr hat für die Ängste und Nöte der Suizidwilligen, die sie präzise wahrnimmt und sie vorbehaltlos akzeptiert. Seelsorgerinnen und Seelsorger holen die Menschen nicht selten aus ihrer Isolation heraus und vermitteln Suizidwillige oft wieder mit den nächsten Angehörigen. Äußert jemand einen Suizidwunsch, führt das manchmal zu Sprachlosigkeit oder auch zu verletzten Gefühlen bis hin zum Zorn bei den Angehörigen. Deshalb ist es wichtig, dass Seelsorgerinnen und Seelsorger auch einen Blick für das systemische beziehungsweise familiäre Umfeld von Suizidwilligen haben. Trotz aller Bemühungen und aller guten palliativen Versorgung gibt es aber Menschen, die nicht mehr weiterleben und die letzte Wegstrecke nicht mehr gehen wollen. Dann ist diese Entscheidung auch zu akzeptieren. Alles andere käme einer Bevormundung gleich.
Vor wenigen Tagen wurde bereits der erste interfraktionelle Gesetzentwurf in das Parlament eingebracht – wunderbar, dass dies nun endlich geschieht.
Wie können sich die Kirchen dazu stellen?
Zunächst einmal sind beide große Kirchen im Hinblick auf die Suizidassistenz in Deutschland eher skeptisch und prohibitiv eingestellt. Zugleich ringt insbesondere die evangelische Kirche mit dieser Frage. Sie weiß um die Schuldgeschichte der Kirche im Hinblick auf die Stigmatisierung und Ausgrenzung von Menschen, die sich selbst getötet haben. Es freut mich deshalb, dass der Rat der evangelischen Kirche in Deutschland am vergangenen Wochenende das Thema ausführlich behandelt und intensiv und ernsthaft diskutiert hat. Die Debatte war, wie Jacob Joussen berichtete, sehr sachlich und von gegenseitigem Respekt geprägt.
Was wünschen Sie sich für den weiteren Fortgang der Dinge?
Die Debatte wird weitergehen. Es ist sehr gut, dass deutlich geworden ist, dass es in dieser Frage nicht einfach nur um unterschiedliche Überzeugungen geht, sondern dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nach einer pragmatischen, akzeptablen Lösung verlangt. Vor wenigen Tagen wurde bereits der erste interfraktionelle Gesetzentwurf in das Parlament eingebracht – wunderbar, dass dies nun endlich geschieht. Es zeichnet sich dabei ab, dass der Gesetzgeber nur gemeinnützige Sterbehilfeorganisationen zulassen möchte, das ist sehr zu begrüßen. Jedwede Form des Missbrauchs soll bei dieser sehr heiklen und existentiellen Frage vermieden werden. Der Präsident der Bundesärztekammer hat bereits angekündigt, dass der nächste Bundesärztekongress intensiv über das Thema diskutieren wird. Die Kirchen sind bereits jetzt voll in die Diskussion involviert und werden weiter um Lösungen in ihren Einrichtungen ringen. Politisch muss nicht zuletzt erneut die Suizidprävention im Fokus stehen – es bedarf mehr psychosozialer Hilfe im Hinblick auf vereinsamte alte Menschen sowie eine flächendeckende palliativmedizinische Versorgung auch auf dem Land.
Der Beitrag in der FAZ war also trotz der anfänglichen Turbulenzen ein Erfolg?
Ja, der Impuls war sehr gut. Darin sehe ich die Rolle der Wissenschaft: Impulsgeberin zu sein, nicht nur für wissenschaftliche, sondern auch für gesellschaftliche, politische und institutionelle Debatten.
Gerade die Geisteswissenschaften beschäftigen sich mit der Reflexion moderner Lebensführung und verhandeln dabei ethische Grundfragen: Wie wollen wir leben? Was ist lebensdienlich, was nicht? Optionen gibt es viele, aber welche wollen wir nutzen für unser Zusammenleben und mit Blick auf die künftigen Generationen? Das sind grundlegende ethische Fragen, die nicht zuletzt in den Theologien im Fokus stehen.