Newsportal - Ruhr-Universität Bochum
„Modelle und Realität passen nicht zueinander“
Wie man Armut erklären und langfristig reduzieren kann, sind zwei Fragen, auf die es laut Prof. Dr. Wilhelm Löwenstein noch zu wenige Antworten gibt. Im Interview erzählt der Direktor des RUB-Instituts für Entwicklungsforschung und Entwicklungspolitik (IEE) und Professor für Entwicklungsforschung an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft der RUB, wie das Team des europäischen Verbundprojekts „ADAPTED“ neue Antworten finden möchte. Ins Leben gerufen hat er es gemeinsam mit europäischen Partnern, dem RUB-Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Markus Kaltenborn und der IEE-Geschäftsführerin Dr. Gabriele Bäcker. ADAPTED ist ein European Joint Doctorate, ein besonderes Graduiertenkolleg, in dem sich internationale Promovierende zusammen mit europäischen Betreuer-Teams auf die Suche nach ökonomischen Modellen, politischen Lösungen und besseren gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Armutsbekämpfung machen.
Herr Professor Löwenstein, die weltweite Reduzierung extremer Armut ist das erste der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung, die die Vereinten Nationen bis 2030 erreichen wollen. Was versteht die UN unter extremer oder absoluter Armut?
Die Weltbank und das UN-System definieren absolute Armut mithilfe eines festgelegten Warenkorbs, der den täglichen Minimalbedarf eines Menschen an Grundnahrungsmitteln, Kleidung und Unterkunft pro Person und Tag beschreibt. Er markiert die Armutslinie. Zur Deckung dieses Minimalbedarfs muss ein Mensch in Manhattan bei den dort geltenden Preisen 1,90 Dollar pro Tag ausgeben, in Lilongwe, im südostafrikanischen Malawi, braucht man – wegen der Kaufkraftunterschiede – zur Finanzierung des gleichen Warenkorbs 0,64 Dollar pro Tag. Wer also in den USA weniger als 1,90 Dollar und in Malawi weniger als 0,64 pro Tag ausgeben kann, gilt als absolut arm. Von dieser Form von Armut, die sich in Hunger, Mangelernährung, fehlendem Zugang zu sauberem Wasser, medizinischer Versorgung und Bildung äußert, sind in Malawi schätzungsweise zwei Drittel der Bevölkerung betroffen und in den Staaten südlich der Sahara knapp eine halbe Milliarde Menschen.
Findet man diese Form von extremer Armut auch in Europa?
Nein. In Europa kennen wir keine absolute Armut. Wenn wir hier über Armut reden, geht es darum, dass wir Menschen als armutsgefährdet einschätzen, weil sie weniger als der Durchschnitt verdienen. In unseren Statistiken steht zum Beispiel, dass im Jahr 2019 knapp 16 Prozent der Bevölkerung in Deutschland armutsgefährdet waren und mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung auskommen mussten. Für einen Single-Haushalt ergibt sich daraus eine relative Armutslinie von 14.109 Euro pro Jahr beziehungsweise 38 Euro pro Tag. Wer weniger hat, gilt bei uns als armutsgefährdet. Und da sieht man den himmelweiten Unterschied zur absoluten Armutslinie der UN. Absolute Armut, die wir im Rahmen des European Joint Doctorate beforschen, und über die die UN in den Sustainable Development Goals spricht, hat mit relativer Armut, die wir in Europa messen, rein gar nichts zu tun.
Im Jahr 2015 haben sich die Vereinten Nationen auf 17 dringende Handlungsfelder verständigt, die von der Beendigung der Armut und des Hungers bis hin zu Klimaschutz, Gleichstellung oder oder Transparenz in Institutionen reichen. Die Agenda für nachhaltige Entwicklung ist ein Fahrplan bis zum Jahr 2030, der sich an Regierungen weltweit, aber auch an die Zivilgesellschaft, die Privatwirtschaft und die Wissenschaft richtet – alle sollen ihr Handeln an den Zielen ausrichten. Die Vision ist, Menschen in aller Welt ein Leben in Wohlstand und Frieden zu ermöglichen und unseren Planeten vor weiterer Schädigung zu schützen. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der RUB tragen mit ihrer Forschung zu der Agenda 2030 bei.
Das Forschungsprojekt ADAPTED trägt zu Ziel 1 „Armut in all ihren Formen und überall beenden“ bei.
Wie kann man absolute Armut wissenschaftlich abbilden und erklären?
Armut ist zwar volatil, aber es gibt Trends. Beispielsweise beobachten wir in China seit den 1980er-Jahren stark sinkende Armutsraten. Obwohl die Bevölkerung dort in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen ist, ist der Anteil derjenigen, die unter der Armutslinie leben, von anfänglich 90 Prozent auf 10 Prozent gesunken – ein riesiger Erfolg. Armut ist ein langfristiges Phänomen, von dem man vermuten kann, dass es eng mit langfristigen Wachstumstrends verbunden ist. Zu deren Erklärung hat die Ökonomie über die Zeit eine Reihe immer wieder verbesserter Wachstumsmodelle vorgelegt.
Wie lässt sich absolute Armut mit diesen Wachstumsmodellen erklären?
Gar nicht, denn die vorliegenden Wachstumsmodelle wurden zur Beschreibung und Erklärung von Produktivitäts- und Einkommenswachstum in Industrieländern entworfen. Dort gibt es aber keine absolute Armut. Die Theorie geht davon aus, dass, bei allen Unterschieden im Detail, alle Menschen in einer Volkswirtschaft unter ähnlichen Bedingungen wirtschaften und wirtschaftliches Wachstum durch Investitionen und technischen Fortschritt entsteht. Beides führt zu Produktivitätswachstum, steigenden Löhnen, wachsendem Lebensstandard und zwar für alle. Wären unsere herkömmlichen Modelle auch für Entwicklungsländer gültig, müssten dort durch Wachstum auch die Einkommen der Ärmsten der Armen zunehmen und absolute Armut müsste verschwinden. Die Einkommen der Ärmsten nehmen aber nirgends systematisch zu. Dagegen lässt sich beobachten, dass in etlichen Entwicklungsländern der Bevölkerungsanteil der absolut Armen abnimmt, in anderen stagniert und in wieder anderen zunimmt, und das können die vorliegenden Wachstumsmodelle nicht erklären.
Warum nicht? Wo ist der Denkfehler?
Wenn man die existierenden Modelle auf Entwicklungsländer anwendet, nimmt man implizit an, dass deren Volkswirtschaften zurückgebliebene Versionen der Industrieländervolkswirtschaften sind, dabei aber im Kern sehr ähnlich funktionieren. Ein Land wie Malawi müsste danach nur mehr in Maschinen und Ausrüstung, in Bildung und Gesundheit investieren, technischen Fortschritt ermöglichen und seine Institutionen verbessern und absolute Armut wäre bald Geschichte. Die Daten legen aber nahe, dass das so einfach nicht geht. Offenbar liegt das daran, dass es in der Realität mit der Ähnlichkeit der Volkswirtschaften doch nicht so weit her ist wie die traditionellen Modelle unterstellen.
Woran liegt das?
Nehmen wir wieder Malawi als Beispiel: Dort gibt es Banken, die technisch ebenso modern wie unsere Bochumer Sparkasse ausgestattet sind, landwirtschaftliche Betriebe, die denen in Brandenburg ähneln oder industriellen Bergbau, der genauso organisiert ist wie bei uns. Menschen in solchen Betrieben arbeiten auch in Malawi mit modernen Maschinen und profitieren vom technischen Fortschritt. Sie haben Arbeitsverträge, sind produktiv, werden vernünftig bezahlt und leben oberhalb der Armutslinie. Anders als in Hocheinkommensstaaten arbeitet in Malawi aber ein Großteil der Arbeitskräfte im informellen Sektor, zum Beispiel in der Subsistenzlandwirtschaft, als Tagelöhner oder als Straßenhändler. Diese Beschäftigungsformen gibt es bei uns nicht mehr. Sie erinnern an das Wirtschaften in Europa vor 150 oder mehr Jahren. Hier wird im Wesentlichen ohne Maschinen, ohne technischen Fortschritt und unter Einsatz menschlicher Arbeitskraft produziert, Arbeitsverträge gibt es nicht, die Produktivität ist niedrig, und daher werden im informellen Sektor Einkommen unter der Armutslinie erwirtschaftet. Unser Ansatz im Projekt ADAPTED berücksichtigt die Existenz solcher strukturellen Unterschiede zwischen modernem und informellem Sektor.
Was bedeutet das konkret?
Unsere Wachstumsmodelle beziehen Informalität und Armut mit ein. Investitionen und technischer Fortschritt wirken sich dann nur auf den modernen Sektor aus. Dieser expandiert und steigert die Anzahl seiner Arbeitskräfte, die er aus dem informellen Sektor rekrutiert, weil er höhere Löhne zahlt. Die betroffenen Arbeitskräfte und ihre Familien entkommen der absoluten Armut. Für alle anderen Arbeitskräfte, die im informellen Sektor bleiben, ändert Wachstum dagegen nichts. Sie leben weiterhin in absoluter Armut. Darüber hinaus zeigen wir, dass selbst hohes Wachstum in Staaten mit kleinem modernen Sektor und daher mit hohen Armutsquoten nur unmerklich zur Armutsreduktion beiträgt. Und das heißt, dass gerade in armen Ländern eine konsequente Wachstumspolitik nicht hinreicht, um absolute Armut zu bekämpfen. Hier braucht es mehr.
Was folgt daraus für staatliche Maßnahmen zur Armutsbekämpfung? Erweisen sich Instrumente wie der Mindestlohn oder soziale Sicherungssysteme in Entwicklungsländern als hilfreich?
Von der Etablierung eines Mindestlohns oder der Einführung sozialer Sicherungssysteme profitieren in Entwicklungsländern die Ärmsten der Armen nicht. Denn ein Mindestlohn steigert weder den Umsatz des informellen Straßenhändlers noch die Erträge der Subsistenzbäuerin. Und Zugang zu sozialer Sicherung haben beide auch nicht, denn sie können sich die Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen nicht leisten, die in Entwicklungsländern aber die Voraussetzung dafür sind, dass man Sozialleistungen erhält.
Welche Maßnahmen erreichen dann die absolut Armen in Entwicklungsländern?
Kurzfristig gesehen gibt es nur eine Sache, die hilft, wenn jemand absolut arm ist: mehr Einkommen. Geldgeber wie die Weltbank oder die Europäische Union stellen Ländern regelmäßig Mittel zur Verfügung, um die Ärmsten der Armen zu bezuschussen. Und auch hier stellen sich jede Menge Fragen: Wie organisiere und verwalte ich solche Cash-Transfers staatlicherseits? Wie lassen sich in Entwicklungsländern verfügbare Ressourcen für die Unterstützung der Ärmsten mobilisieren? Wie erreiche ich die, die Unterstützung am meisten benötigen? Auf diese Fragen versuchen wir im Rahmen von ADAPTED Antworten zu finden.
Wozu wird in ADAPTED im Einzelnen geforscht?
Mit dem Projekt wollen wir zu einem verbesserten Verständnis von Armutstrends und der Wirksamkeit von Maßnahmen zur Bekämpfung absoluter Armut beitragen. Die Existenz des informellen Armutssektors ist dabei in allen Arbeiten untersuchungsleitend, die ihrerseits Perspektiven aus der Ökonomie, der Rechtswissenschaft und der Governance-Forschung miteinander verbinden. Wir gehen unsere Ziele in drei multidisziplinären Arbeitsgruppen (AGs) an, die jeweils sowohl theoretisch als auch empirisch arbeiten. Entwicklungsländer unterscheiden sich nicht nur von Industriestaaten, sondern sie unterscheiden sich auch untereinander erheblich. Die erste AG kümmert sich darum, die Wirkungen einzelner wachstums- und sozialpolitischer Ansätze auf absolute Armut unter Berücksichtigung dieser Länderunterschiede zu erforschen. Maßnahmen zur Armutsreduktion werden nicht in einem Politikvakuum umgesetzt, sondern sind in eine Vielzahl von anderen politischen Projekten und Programmen eingebettet. Die zweite AG untersucht daher einerseits die Wechselwirkungen, die zwischen armutsreduzierenden und wachstumsfördernden Programmen bestehen, und analysiert anderseits, wie Maßnahmen in weiteren Politikbereichen – zum Beispiel Klimaschutz – die Wirksamkeit von armutsorientierter Politik beeinflussen. In Entwicklungsländern gibt es einzelne Beispiele für eine gute Koordination armutsorientierter Politiken und für funktionierende Programme zur Armutsreduktion. Die dritte AG geht der Frage nach, welche rechtlichen und politischen Mechanismen dazu beitragen, diese guten Ergebnisse hervorzubringen.
Wie ist das Graduiertenprogramm von ADAPTED strukturiert?
Wir haben 15 leistungsstarke und engagierte Doktorandinnen und Doktoranden mit gesellschaftswissenschaftlichem Hintergrund aus 300 internationalen Bewerbungen ausgewählt, die im September 2021 mit ihrem European Joint Doctorate begonnen haben. Sie werden jeweils von einem internationalen Zweierteam begleitet und betreut, die sich aus den fünf teilnehmenden Universitäten aus Deutschland, den Niederlanden, Frankreich und der Türkei rekrutieren. Alle fünf Universitätspartner organisieren ein gemeinsames Programm, das den wissenschaftlichen Nachwuchs in den unterschiedlichen Promotionsphasen spezifisch unterstützt. Die 15 Promovierenden arbeiten in unseren drei multidisziplinären Arbeitsgruppen standortübergreifend zusammen, betreiben Feldforschung in Afrika, sammeln internationale Lehrerfahrung, schnuppern Praxisluft bei außeruniversitären Partnereinrichtungen und erhalten nach erfolgreichem Abschluss den Doktorgrad von zwei europäischen Universitäten. Daraus entstehen eindrucksvolle Kompetenzprofile, die sowohl auf eine Tätigkeit in der Forschung als auch in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit oder in international aktiven Unternehmen vorbereiten.
Und (wie) wird es nach drei Jahren ADAPTED weitergehen?
Ich bin zuversichtlich: In diesen drei Jahren werden wir eine Vielzahl interessanter Ergebnisse vorlegen und gleichzeitig neue Fragestellungen entdecken, auf deren Basis das internationale ADAPTED-Team auch in Zukunft weiter zusammenarbeiten wird.
Das Verbundprojekt „ADAPTED – Eradicating Poverty: Pathways towards Achieving the Sustainable Development Goals” wird seit dem 1. Februar 2021 als European Joint Doctorate für vier Jahre mit 3,9 Millionen Euro von der EU-Kommission gefördert. Seit September 2021 begleitet ein strukturiertes Promotionsprogramm die Forschungsarbeiten.
- Deutschland: Ruhr-Universität Bochum, Institut für Entwicklungsforschung (Koordinator des Konsortiums)
- Niederlande: Erasmus-Universität Rotterdam, International Institute for Social Studies, Vrije Universiteit Amsterdam, Kooijmans Institute for Law and Governance
- Frankreich: Centre National de Recherche Scientifique und Université Paris 1 Panthéon Sorbonne, Centre d’économie de la Sorbonne
- Türkei: Boğaziçi University, Department of Economics
- Afrika: University of the Western Cape (Südafrika), University of Cape Town (Südafrika), Bahir Dar University (Äthiopien), University of Development Studies (Ghana), Moi University (Kenia), University of Douala (Kamerun)
- Deutsche Investitions- und Entwicklungs-GmbH, Agence Française de Dévelopement, Centre for Research on Multinational Corporations, European Association of Development Research and Training Institutes
21. Oktober 2021
12.46 Uhr