Serie Die größten Verbrechen
Prof. Dr. Stephan Paul hat an der RUB den Lehrstuhl für Finanzierung und Kreditwirtschaft inne.
© Damian Gorczany

Wirtschaft Moderne Räuber

Die Geschichte ist voll von beispiellosen Verbrechen. Welches aus Sicht der Wirtschaftswissenschaft besonders schwerwiegend ist, beschreibt Stephan Paul in unserer Serie.

Wenn vom „größten Steuerraub der Geschichte Europas“ die Rede ist, bei dem „die Staaten wie eine Weihnachtsgans ausgenommen wurden“, dann denkt man vielleicht an Beutezüge und Plünderungen marodierender Räuberbanden in lange vergangenen Zeiten. Doch weit gefehlt: Der größte Akt der Wirtschaftskriminalität in Deutschland (und Europa) hat sich erst in diesem Jahrtausend abgespielt. Und es handelt sich dabei nicht um die Fälle, denen in der Öffentlichkeit zurecht besondere Beachtung geschenkt wurde, wie dem Dieselskandal, der allein dem VW-Konzern Strafzahlungen von über 30 Milliarden Euro bescherte, oder den Unterschlagungen und der nachfolgenden Insolvenz des Zahlungsabwicklers und Finanzdienstleisters Wirecard, durch die ein Börsenwert von mehr als 20 Milliarden Euro „verbrannt“ wurde.

Mindestens 150 Milliarden Euro beträgt der Schaden, der weltweit durch „Cum-Ex-“, „Cum-Cum-Geschäfte“ und ähnliche Betrugssysteme verursacht wurde. In Deutschland dürften es wenigstens 40 Milliarden sein.

Eine regelrechte Betrugsindustrie

Dabei ließen sich zwischen 2000 und 2020 Banken und andere Finanzmarktakteure mithilfe schwer nachvollziehbarer Rechtskonstruktionen Kapitalertragssteuern auf ihre mit Wertpapieran- und -verkäufen erzielten Erträge mehrfach von den Finanzämtern zurückerstatten, obwohl sie nur einmal, teilweise sogar nie gezahlt worden waren. Große Pakete von Aktien mit („cum“) und ohne („ex“) Anspruch auf Dividende wurden dafür rund um den Stichtag der Ausschüttung in rascher Folge zwischen den Beteiligten im In- und Ausland so lange hin- und hergeschoben, bis die Eigentümer für die Finanzverwaltung nicht mehr eindeutig zu identifizieren waren. Um dieses System über zwei Jahrzehnte funktionsfähig zu halten, hatte sich eine regelrechte Betrugsindustrie gebildet, ein Netzwerk aus allein hierzulande über 80 Banken, verschiedenen Beratenden und zweifelhaften Gutachterinnen und Gutachtern aus der Wissenschaftsszene – die moderne Form der Räuberbande.

Bekämpfung ist nicht effektiv genug

Trotz jahrelanger Warnungen namhafter Steuerexperten und Steuerexpertinnen aus der Wissenschaft und der Gerichtsbarkeit konnte sich die Politik nur langsam aufraffen, wenigstens einen Teil der Schlupflöcher zu schließen, die lange als legale Steuergestaltung abgetan wurden. Texte für dann als notwendig angesehene Gesetzesnovellen wurden von Lobbygruppen entworfen und von der Politik unkritisch übernommen, sodass sich wieder neue Gelegenheiten zur Steuerhinterziehung ergaben.

Bis heute ist die Bekämpfung solcher Geschäfte nicht effektiv genug. Und nur durch die Initiative einiger engagierter Staatsanwaltschaften konnte die Verjährung der Delikte verhindert werden, sodass nach den Aussagen von Kronzeuginnen und Kronzeugen in den vergangenen Jahren die ersten Verurteilungen erfolgten. Es bleibt daher der bittere Nachgeschmack, dass gerade Wirtschaftsverbrechen nur komplex genug sein müssen, um sowohl die Aufklärungsmöglichkeiten der Justiz zu überfordern als auch unter dem Radar der Öffentlichkeit zu bleiben und damit politische Aktivitäten zu lähmen.

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Veröffentlicht

Dienstag
22. März 2022
09:14 Uhr

Von

Stephan Paul

Dieser Artikel ist am 2. Mai 2022 in Rubin 1/2022 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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