Serie Die größten Verbrechen
Prof. Dr. Thomas Söding hat an der RUB den Lehrstuhl für Neues Testament inne. © Damian Gorczany

Theologie Ein biblischer Realitätsmythos

Die Geschichte ist voll von beispiellosen Verbrechen. Schon in der Bibel ging es los – mit einem berühmten Brudermord, der sich immer wieder ereignet, sagt Thomas Söding unserer Serie.

Die Bibel beginnt mit einer Urgeschichte, die vor aller Zeit spielt und sich zu jeder Zeit ereignet: Adam und Eva werden aus dem Paradies vertrieben, weil sie selbst Gott sein wollen und deshalb einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben. Jenseits von Eden müssen die Menschen unter Schweiß und Tränen ihr Dasein fristen. Das erste, was passiert: Kain tötet seinen Bruder Abel. Kain ist ein Bauer, Abel ein Hirt. Kain bringt ihn um, weil Gott das Opfer Abels anzunehmen, sein eigenes aber zu verschmähen scheint. Kain wird von Gott zur Rede gestellt und leugnet seine Schuld. Er verzweifelt angesichts der Strafe Gottes, die ihn erwartet. Gott aber schützt ihn – mit einem Kainsmal, das ihn als Täter brandmarkt und denen siebenfache Rache androht, die ihm, dem Mörder, nach dem Leben trachten.

Auch der Koran kennt diese Geschichte. Ihre Rezeption ist ungeheuer stark, heute wie eh und je. Von Jan van Eyck bis Tizian und Marc Chagall bis David Alfaro Siqueiros, von Lord Byron bis Baudelaire und von Erich Mühsam bis John Steinbeck, von Computerspielen wie „Command & Conquer“ oder „Legacy of Kain“, in Fernsehserien wie „Lucifer“ und „Supernatural“, in Opern und Horrorkömodien, in der Soziologie und der Psychologie steht der Brudermörder für die Faszination des Bösen, an der moralische Appelle abprallen und Konfliktlösungen scheitern.

Ein Verbrechen, das immer wieder geschieht

Die Bibel historisiert den Brudermord nicht. Sie charakterisiert ihn als typisch. Er ist ein entsetzliches Verbrechen, das immer wieder geschieht: Ein Mann übt tödliche Gewalt; ein Opfer stirbt; ein clash of cultures wird blutig ausgetragen; der Neid auf Gott setzt Hass frei, die Schuld wird verleugnet und verdrängt; eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt beginnt, die mühsam eingedämmt, aber nicht aus der Welt geschafft werden kann.

Kain und Abel ist eine Geschichte, die Gewalt weder verherrlicht noch verdrängt, sondern aufklärt. Der Mörder bleibt Gottes Geschöpf, aber der Brudermord zerstört das Leben, das Gott schenkt.

Erlösung? Nur jenseits der Geschichte.

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Veröffentlicht

Dienstag
05. April 2022
09:29 Uhr

Von

Thomas Söding

Dieser Artikel ist am 2. Mai 2022 in Rubin 1/2022 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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