Verfassungsrecht Drahtseilakt Terrorismusbekämpfung
Müssen wir für mehr Sicherheit unsere Freiheit beschneiden? Theresa Bosl untersucht, wie die Terrorismusbekämpfung in Deutschland reformiert werden könnte.
Am 19. Dezember 2016 lenkte der Tunesier Anis Amri einen gestohlenen LKW in die Menschenmenge auf dem Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz, tötete 12 Menschen und verletzte mehr als einhundert. Der islamistische Terroranschlag zur Weihnachtszeit erschütterte die Bundesrepublik. Fünf Jahre, tausende Aktenordner, mehr als 100 Sitzungen und Vernehmungen später bescheinigte der Abschlussbericht des zuständigen Untersuchungsausschusses des Bundestages den Sicherheitsbehörden große Fehler. Theresa Bosl, Doktorandin am RUB-Lehrstuhl für Öffentliches Recht von Prof. Dr. Pierre Thielbörger, war wissenschaftliche Mitarbeiterin im Ausschuss zur Aufarbeitung des Attentats. Nach Abschluss der parlamentarischen Untersuchung lässt der Fall Amri die Bochumer Juristin nicht los: Wie können Behörden künftig effektiver auf ihnen bekannte Anschlagspläne reagieren und diese verhindern? In ihrer Doktorarbeit deckt Bosl Defizite der Terrorismusbekämpfung auf und erörtert Reformoptionen aus verfassungsrechtlicher Sicht.
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„Im Untersuchungsausschuss wurde immer wieder die Schuldfrage gestellt“, erinnert sich die Doktorandin. Viel drängender und interessanter sei jedoch die Frage: Wie kann man solche Anschläge in Zukunft verhindern? In der Politik würden immer reflexartig Forderungen nach mehr Zentralisierung von Befugnissen oder Kompetenzerweiterungen, etwa zur Überwachung, laut. Doch sind diese Forderungen berechtigt? Liegen die Probleme in der nationalen Terrorismusbekämpfung, wie etwa im Fall Amri, tatsächlich in föderalen Strukturen und mangelnden Kompetenzen begründet, oder sind sie vielleicht auf andere Defizite zurückzuführen? Was müsste verbessert werden? Diesen Fragen geht Bosl in ihrer Doktorarbeit auf den Grund.
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Dazu nimmt die Juristin die Behörden und die grundgesetzlichen Vorgaben zu ihren jeweiligen Zuständigkeiten und Aufgaben genauer unter die Lupe. „Mein Fokus liegt dabei auf den Exekutivkompetenzen, also auf denen der Sicherheitsbehörden, die operativ in der Terrorismusbekämpfung tätig sind. Dazu gehören etwa der Bundesnachrichtendienst (BND), das Bundeskriminalamt (BKA), das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und die jeweiligen Landesbehörden“, erläutert Bosl. Gemäß Artikel 30 und 83 des Grundgesetzes seien zunächst primär die Landesbehörden für die Terrorismusbekämpfung zuständig, die Bundesbehörden würden nur in Ausnahmefällen tätig. Auf beiden Ebenen müsse man die Arbeit der Polizeibehörden und der Nachrichtendienste voneinander unterscheiden.
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Eine länderübergreifende terroristische Bedrohung wie im Fall des Terroristen Anis Amri kann in die Zuständigkeit sowohl des Bundes als auch des betroffenen Bundeslandes fallen und damit auch zu unterschiedlichen Regelungen, Einschätzungen und Entscheidungen führen. „Amri reiste regelmäßig zwischen Berlin und NRW hin und her, und damit überschnitten sich nicht nur die Zuständigkeiten der verschiedenen Bundesländer, sondern auch die der unterschiedlichen Sicherheitsbehörden, wie Polizei und Verfassungsschutz“, erklärt Bosl.
Effektive Kooperationsmechanismen einführen
In ihrer Analyse der Sicherheitsstrukturen bemängelt die Juristin vor allem, dass effektive Kooperationsmechanismen fehlen. „Das Fatale im Fall Amri war, dass die beiden Bundesländer verschiedene Auffassungen zu seiner Gefährlichkeit hatten und daher sich widersprechende Maßnahmen ergriffen, die Amri misstrauisch werden ließen und somit einen Ermittlungserfolg verhinderten“, erklärt Bosl.
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Wie lässt sich das Problem lösen? Die Wissenschaftlerin schlägt vor, Plattformen, in denen sich Vertreterinnen und Vertreter aller Sicherheitsbehörden täglich austauschen, wie etwa das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum, zu stärken. „Es gibt in diesen Zentren aktuell keine verbindlichen Absprachen und Vorgaben dazu, welche Arbeitsschritte welche Behörde bei welchem Gefährdungspotenzial einzuleiten hat“, kritisiert Bosl. Die Durchsetzung einer solchen Lösung sei jedoch aus verfassungsrechtlicher Perspektive problematisch: „Diese Austauschplattformen sind bisher nicht gesetzlich geregelt. Der intensive und unregulierte Datenaustausch beeinträchtigt das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.“ Bosl fordert daher verbindliche Rechtsgrundlagen zu schaffen – zum Schutz der Grundrechte und zur Verbesserung der Kommunikation. „Die Ermittlungen im Untersuchungsausschuss haben gezeigt, dass die Politik den Sicherheitsbehörden keinen Gefallen tut, wenn es keine Rechtsgrundlagen gibt und die Zuständigkeiten ungeklärt sind“, resümiert die Juristin.
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Bosl diskutiert in ihrer Arbeit daher auch die Idee, im Sinne einer Zentralisierung die Bundesbehörden BKA und BfV mit eigenen Ermittlungs- und Weisungsbefugnissen auszustatten, damit künftig bei länderübergreifenden Sachverhalten einheitlich vorgegangen werden kann. „Möglicherweise hätte es im Fall Amri die Ermittlung verbessert, wenn das Bundeskriminalamt Weisungen an die betroffenen Landeskriminalämter hätte erteilen dürfen.“ Auch prüft sie, ob das Grundgesetz diese Erweiterung zulassen würde oder ob die beiden Ämter als Zentralstellen auf die bloße Koordinierung zwischen den Bundesländern beschränkt bleiben müssen.
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Die Doktorandin gibt zu bedenken: „Forderungen nach Zentralisierung und Ausweitung der Befugnisse sind unterkomplexe Antworten für ein höchstkomplexes Problem.“ Zwar könnten föderale Strukturen zu Effektivitätsverlusten führen, aber das Hauptproblem liege dann meist in der Kooperation oder Koordination begründet und nicht an der eigentlichen Kompetenzverteilung. Bosl ist überzeugt: „In der Regel sind es gerade die lokalen Sicherheitsbehörden, die die relevanten Szenen und Akteure am besten kennen und somit die zuverlässigsten Gefährdungseinschätzungen vornehmen können.“ Problematisch könne dies natürlich dann werden, wenn eine Gefahr mehr als ein Bundesland betreffe. Dies gelte besonders dann, wenn die betroffenen Bundesländer unterschiedliche Ansätze verfolgen: „Es gibt dann keine Letztentscheidungsinstanz.“
Eine neue Behördenstruktur
Die Wissenschaftlerin sieht ein weiteres akutes Problem in der derzeitigen Behördenstruktur. „Unsere Sicherheitsbehörden sind in die Bereiche von innerer und äußerer Sicherheit eingeteilt: Während der BND für terroristische Gefahren aus dem Ausland zuständig ist, ist das BfV für nationale terroristische Gefahren verantwortlich“, erklärt sie. Diese Aufteilung sei veraltet und entspreche nicht mehr der Realität. „Heute agieren Terroristinnen und Terroristen global, indem sie sich digital vernetzen und relativ mühelos Grenzen überqueren“, schildert Bosl. Es gebe nicht mehr den nationalen und den internationalen Terrorismus. „Das beobachten wir nicht nur im Bereich des islamistischen Terrorismus, sondern auch im Rechtsterrorismus.“ Ihr Vorschlag lautet daher, die Behörden nach Phänomenbereichen zu gliedern und umzuorganisieren. Für bestimmte Strömungen sei ein spezielles Fachwissen und besonderes Verständnis der Szenen, Codewörter und Umfelder gefragt.
Kontrolle bündeln
Ebenso reformbedürftig findet Bosl die Arbeit der vielen Kontrollorgane und Gremien, die die Arbeit und Vorgänge in den Sicherheitsbehörden überprüfen. Dass es diese Fülle an Kontrollgremien, wie etwa die G10-Kommission, das Parlamentarische Kontrollgremium oder den Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationssicherheit, gibt, sei ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Die Anzahl allein trage jedoch nicht zur Effektivität bei. „Bislang sind diese Kontrollgremien nur mit unzureichenden Überprüfungsmöglichkeiten ausgestattet. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht für die Kontrolle des BND ausdrücklich festgestellt“, erläutert Bosl. Sie überprüft, ob es effektiver wäre, statt einer Vielzahl von Gremien mit unzulänglichen Befugnissen, die Kontrolle zu bündeln und geschulteres Personal einzubeziehen.
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Zuletzt kritisiert Bosl, dass die Kompetenzen der Behörden und ihre Befugnisse nicht nur unzureichend kontrolliert, sondern auch intransparent kommuniziert würden. Was passiert in den einzelnen Behörden? Wie konkret muss die Gefahr für ein Einschreiten sein? Unter welchen Voraussetzungen darf der Staat Informationen sammeln und Daten speichern? Wer darf mich wann überwachen? Bosl findet es höchst problematisch, dass in der Terrorismusbekämpfung Bürgerinnen und Bürger nicht wissen können, ob sie von verdeckten Maßnahmen, wie etwa dem Einsatz von Staatstrojanern, persönlich betroffen sind. „Im Grundsatz muss es doch möglich sein, zu verstehen, was die Sicherheitsbehörden machen, zumindest abstrakt“, so die Juristin. Umso wichtiger sei es deswegen, konkrete rechtliche Grundlagen dafür zu schaffen, wie mit Daten umgegangen würde, die Behörden stärker zu kontrollieren, für mehr Transparenz in der Öffentlichkeit zu sorgen.
Grundrechte schützen
Dabei gehe es nicht darum, grundsätzlich Misstrauen in den Staat zu schüren. „Wir sind uns alle einig, dass Sicherheit ein wertvolles Gut ist. Und dass effektiv gehandelt werden muss und wir Eingriffe in unsere Grundrechte hinnehmen müssen. Aber nicht in unverhältnismäßigem Maße. Und vor allem nicht so intransparent, dass die Öffentlichkeit nicht erkennen kann, was denn da überhaupt passiert.“ Die staatliche Aufgabe, alle Formen des Terrorismus zu bekämpfen, ergäbe sich aus der Pflicht des Staates, Leib und Leben seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen.
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Der Staat dürfe aber auch hierbei die übrigen Grundrechte seiner Bürgerinnen und Bürger nicht unverhältnismäßig beeinträchtigen. „Wir wissen aktuell schlicht nicht, wenn unsere Grundrechte betroffen sind. Dies macht die Durchsetzung persönlicher Rechte und Kontrolle solcher Maßnahmen auf dem gerichtlichen Wege praktisch unmöglich“, so Bosl. Grundrechtliche Bedenken und Geheimhaltungsinteressen müssten gegeneinander abgewogen und eine schonende Balance zwischen freiheits- und sicherheitsrechtlichen Erwägungen gefunden werden.
Den verfassungsrechtlichen Rahmen beachten
Aktuell prüft Bosl, ob die herausgearbeiteten Reformoptionen mit der Verfassung vereinbar wären: Gibt es Vorgaben im Grundgesetz, die den Reformen im Wege stehen können? Erlaubt das Grundgesetz eine Aufteilung in bestimmte Phänomenbereiche? Wäre es möglich, Kontrollorgane umzustrukturieren? Dazu studiert die Bochumer Juristin die einschlägigen Artikel des Grundgesetzes, untersucht deren genauen Wortlaut und erörtert den Zweck der Vorschriften. Neben den Gesetzestexten bezieht sie auch die historische Entstehungsgeschichte der Artikel, ihre Auslegungen durch Gerichte sowie die Berichte der Untersuchungsgremien in einzelnen Fällen (Anschlag auf Breitscheidplatz, NSU, Mord an Walter Lübke) mit in ihre Analyse ein.
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Bosl hofft mit ihrer Arbeit den Reform-Diskurs in Politik und Gesellschaft anzustoßen. Ihre Forschung soll dazu beitragen, dass zukünftige Reformen langfristig zu strukturellen Verbesserungen der Terrorismusbekämpfung führen, ohne dabei das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit zu gefährden. Im Idealfall ließe sich so das Risiko für ein Terror-Attentat wie im Dezember 2016 künftig reduzieren.