Serie Die größten Verbrechen
Prof. Dr. Christian Schwermann leitet die Sektion Sprache und Literatur Chinas an der Fakultät für Ostasienwissenschaften der RUB. © Daniel Sadrowski

China Raubgut für die Wissenschaft

Die Geschichte ist voll von beispiellosen Verbrechen. In China ist etwa die Grabräuberei weit verbreitet. Das bringt auch Philologen mit dem Thema Verbrechen in Kontakt, sagt Christian Schwermann in unserer Serie.

Mit Verbrechen hat man als Altphilologe eher selten zu tun, es sei denn, es geht um die Frage, welche Verstöße gegen die Ordnung ihrer Gesellschaft antike Autoren als gravierend ansehen. Im antiken China galt der Grabraub als besonders verwerflich. Da viele Gräber kostbare Beigaben enthielten, war er vermutlich an der Tagesordnung, sodass ihn nicht nur konfuzianische Gelehrte, sondern auch Vertreter anderer philosophischer Schulen verurteilten. So heißt es in einer Staatslehre des dritten Jahrhunderts vor Christus, dass die Früheren Könige – idealisierte Herrscher des hohen Altertums – die Schändung ihrer Toten verabscheuten und sie daher möglichst schlicht begraben ließen.

Diese Aussage deutet darauf hin, dass es bei der Beurteilung von Grabschändung zum Teil um Fragen der Gangbarkeit und nicht der Justiziabilität ging: Es war nicht angängig, die Totenruhe zu stören, aber anders als im deutschen Strafgesetzbuch war dieses Vergehen nicht der Gerichtsbarkeit unterworfen. Die traditionelle Betonung von Fragen der Schicklichkeit mag erklären, warum der Grabraub in China bis heute verbreitet ist.

Chinesische Universitäten kaufen Raubgut

In den vergangenen fünfzig Jahren ist dort so viel gebaut worden wie nie zuvor. Entsprechend viel Arbeit gäbe es eigentlich für Archäologen. Aber diese können gar nicht so schnell Rettungsgrabungen unternehmen, wie Bodendenkmäler durch Baumaßnahmen bedroht werden, oder die zuständigen Ämter für Denkmalschutz werden aus Zeit- und Kostengründen gar nicht erst informiert. So sind in den vergangenen Jahrzehnten etliche antike Manuskripte auf Holz und Bambus durch Raubgrabungen ans Tageslicht gekommen. Obendrein haben führende chinesische Universitäten dieses Raubgut den Räubern auch noch für Millionenbeträge auf Antiquitätenmärkten abgekauft, sodass der Anreiz, antike Gräber zu plündern, stetig steigt.

Denn seit dem vierten Jahrhundert vor Christus sind anscheinend lesewütigen Toten bisweilen ganze Bibliotheken mit ins Grab gegeben worden. So fanden sich in Gräbern von Beamten des frühen Kaiserreichs bis dahin unbekannte Quellen positiven Rechts sowie Beamtenspiegel. Die Letzteren belehrten Amtsträger und -anwärter in gebundener Sprache über die moralischen Maßstäbe und Ansprüche ihrer Tätigkeit. Beide Dokumentengattungen sind von unschätzbarem Wert für die administrative Kulturgeschichte von Gangbarkeit und Justiziabilität in China.

Wertvolle Quellen werden entwertet

Das Problem bei geraubten Grabmanuskripten ist, dass ihre Herkunft – und damit der Kontext des Grabes und seiner Beigaben – in der Regel ungeklärt bleibt und außerdem immer der Verdacht bleibt, dass es sich um Fälschungen handelt. So werden potenziell wertvolle Quellen entwertet, und ausgerechnet diejenigen Institutionen, die eigentlich für deren wissenschaftliche Ausgrabung, Sicherung, Aufbewahrung und Veröffentlichung zuständig sind, tragen – gegen ihren eigenen Willen – auch noch entscheidend zu dieser Entwertung bei. Die dieser Entwicklung zugrunde liegenden Verbrechen dienen dem ökonomischen Profit und werden von der Justiz bis heute nicht effektiv unterbunden.

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Veröffentlicht

Dienstag
19. April 2022
09:21 Uhr

Von

Christian Schwermann

Dieser Artikel ist am 2. Mai 2022 in Rubin 1/2022 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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