Mathematik Die internationale Stochastik-Elite zu Gast in Bochum

Toronto, Istanbul, Singapur, Bochum: Alle vier Jahre kommen sie zum Stochastik-Weltkongress zusammen. Dieses Jahr trafen sich die Forschenden erstmals in Deutschland – an der Ruhr-Universität in Bochum.

Hunderte Gäste aus aller Welt strömen am 12. August 2024 in das Auditorium maximum der Ruhr-Universität zur Eröffnungszeremonie des Weltkongresses für Stochastik. An der großen Klais-Orgel sitzt kein anderer als der Bochumer Stochastik-Professor Christof Külske und stimmt die internationalen Gäste auf die Woche der Superlative ein. 900 Gäste, 600 Vorträge, 170 Sessions und über 100 Poster zählt die 11. Ausgabe der Welttagung. Sie ist damit die Größte seit ihrer Gründung im Jahr 1986 in Taschkent.

Die Bochumer Tagung markiert einen Meilenstein.


Prof. Dr. Michael R. Kosorok (USA) und Prof. Dr. Victor Panaretos (Europa)

„Die Bochumer Tagung markiert einen Meilenstein, nicht nur zahlenmäßig“, sind sich Prof. Dr. Michael R. Kosorok vom Institute of Mathematical Statistics und Prof. Dr. Victor Panaretos von der Bernoulli Society einig. Die Vorsitzenden der beiden führenden wissenschaftlichen Fachgesellschaften im Bereich der Wahrscheinlichkeitstheorie und mathematischen Statistik betonen: „Die Tagung symbolisiert Einheit, Verbundenheit – nicht nur im wissenschaftlichen Sinne. Das ist so wichtig und wertvoll in diesen Zeiten.“ Und so ermutigen die beiden Wissenschaftler ihre internationalen Kolleg*innen sich auszutauschen und zu verbinden. Ihr großer Dank gilt dem Bochumer Organisationsteam um Prof. Dr. Herold Dehling und Prof. Dr. Peter Eichelsbacher für die Ausrichtung.

Hochkarätige Forschende

Beim Weltkongress in Bochum ist die Elite der Stochastik-Forschung vertreten. „Insbesondere unter den Plenarsprecher*innen finden sich weltweit anerkannte Expert*innen“, berichtet Herold Dehling. Viele kommen von international renommierten Forschungsuniversitäten wie Cambridge, Harvard oder Stanford.

Zu den Stochastik-Größen zählt auch Prof. Dr. Richard D. Gill. Der Wissenschaftler von der Universität Leiden machte 2010 Schlagzeilen mit dem Fall „Lucia de Berk“. „Dank Richards Arbeit wurde eine angebliche Serienmörderin in den Niederlanden in einem spektakulären Revisionsverfahren am Ende freigesprochen,“ weiß Dehling. Bei der Tagung trägt Gill zu dem Fall vor. „Niemand hatte die Krankenschwester Lucia de Berk jemals die sieben Patient*innen töten sehen. Es gab keine medizinischen und forensischen Beweise. Sie wurde verdächtigt, verhaftet und verurteilt, weil man es statistisch für wahrscheinlich hielt. Denn alle Patient*innen waren unter ihrer Obhut gestorben“, so Gill.

Es ist meine Lebensaufgabe.


Prof. Dr. Richard Gill

Richard Gill konnte zeigen, dass die Beweisführung offensichtlich konstruiert war und lieferte wahrscheinlichkeitstheoretische Argumente für ihre Unschuld. „Der Tag von Lucias Freilassung war einer der bedeutsamsten meines Lebens“, so der Mathematiker. Seit dem Fall ist Gill ein gefragter Experte in der Rechtsprechung. Er hat unter anderem an Fällen für die niederländische, die britische und italienische Regierung sowie den internationalen Gerichtshof mitgearbeitet. „So wurde ich zum Forensiker und zu Jemandem, der Justizirrtümer aufdeckt. Wenn man einer der wenigen Menschen ist, die das können, muss man es tun. Es ist meine Lebensaufgabe.” 

Die Probleme unserer Zeit lösen

Auch die Forschungsgebiete seiner Stochastik-Kolleg*innen, die auf dem Weltkongress vortragen, haben einen starken Praxisbezug und sind gesellschaftlich hochrelevant. Ein Themenbereich bezieht sich zum Beispiel auf Extremwettereignisse: Wie lassen sich Hochwasser, Dürre oder Starkregen im Vorhinein berechnen und wie plausibel erklären? Wie viel wahrscheinlicher sind solche Ereignisse aufgrund des Klimawandels?

Ein anderes Thema, das sich durch die Tagungswoche zieht, betrifft den Einsatz von künstlicher Intelligenz. Wie wahrscheinlich ist es, dass KI demnächst die Newtons unserer Zeit ersetzt? Richard Gill hält das für unwahrscheinlich: „Newton gelang der Durchbruch, weil er Dinge zusammenbrachte, die vorher noch niemand so zusammen gedacht und betrachtet hatte. Er hatte die richtige Intuition. Eine KI hat das nicht. Sie wird keinen innovativen Gedanken formen können.”

Die Schönheit der Mathematik

Fragt man die Teilnehmenden der Tagung nach ihrer Begeisterung und ihren Beweggründen für ihr Forschungsfeld, sind sich alle einig: Sie wollen Antworten auf aktuelle, gesellschaftliche Fragen finden. „Ich entschied mich für die Stochastik, weil ich zu Lösungen beitragen wollte, die mit Problemen der realen Welt, auch moralisch-ethischen Fragen, zu tun haben. Chance und Zufall haben mich seit jeher fasziniert“, so Gill. Der Niederländer Prof. Dr. Frank den Hollander, der, wie Gill, von der „beauty of math“ schwärmt, pflichtet ihm bei. Den Hollander versucht die Funktionsweise von komplexen sozialen Netzen zu verstehen: Wie entstehen Uneinigkeiten? Wie lässt sich etwa die politische Polarisierung in den USA beschreiben? Und wie könnte man einschreiten und Befürworter*innen unterschiedlicher Positionen zum Reden bringen?

Neue Brücken bauen

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, müssen sich die mathematischen Theoretiker*innen häufig erst einmal in komplexe neue Themenbereiche einarbeiten. „In erster Linie begreife ich mich als Datenwissenschaftlerin“, erklärt Prof. Dr. Chunming Zhang von der University of Wisconsin-Madison. „Mit meinen statistischen Methoden möchte ich Brücken bauen, Lücken in anderen Wissenschaftsbereichen füllen“, so die Mathematikerin.

Und wie findet man diese Brücken und neuen Ansätze? „Häufig funktioniert das durch persönliche Beziehungen, Zusammenarbeit und durch Zufall“, weiß Gill aus Erfahrung. „Man transferiert Wissen von einem Bereich in einen anderen. Plötzlich entwickelt sich eine innovative Theorie.“

Lecture nach Bochumer Mathematiker benannt

Eine Besonderheit der Bochumer Tagung ist die Ising-Lecture, die nach dem Bochumer Ernst Ising (1900–1998) benannt wurde, einem in Fachkreisen weltberühmten mathematischen Physiker, der ein mathematisches Modell zur Erklärung von Magnetismus entwickelt hat, das Tausende von wissenschaftlichen Arbeiten nach sich zog. „Wir organisieren sie zur Erinnerung an Ernst Ising, der hier aufgewachsen ist und am Gymnasium am Ostring sein Abitur gemacht hat“, so Dehling.

Der Bochumer Ernst Ising
  • Ernst Ising wurde im Jahr 1900 in Köln in eine jüdische Familie geboren.
  • Seine Eltern Gustav und Thekla Ising waren Kaufleute, die 1904 nach Bochum zogen, wo sie in der Bongardstraße 35 ein Bekleidungsgeschäft eröffneten.
  • Die Isings wohnten in einem Zweifamilienhause in der Goethestraße am Stadtpark. Nebenan wohnte der Kantor der Synagoge Eric Mandel, gegenüber Ottilie Schoenewald.
  • Ernst Ising besuchte das Humanistische Gymnasium in Bochum, später Gymnasium am Ostring genannt, und machte hier 1918 das Abitur.
  • Ising studierte Mathematik, Physik und auch Astronomie in Göttingen, Bonn und Hamburg, wo er 1924, also vor genau 100 Jahren, promovierte.
  • Nach seiner Doktorarbeit arbeitete Ising drei Jahre lang für die Firma AEG, die damals ein großes Elektrounternehmen war.
  • 1927 wurde Ising Gymnasiallehrer, zunächst an einer Privatschule, später an einer staatlichen Schule in Strausberg bei Berlin.
  • Als die Nazis am 1. April 1933 in Deutschland an die Macht kamen, verlor Ising, wie fast alle jüdischen Beamten in Deutschland, seinen Arbeitsplatz.
  • Seine Eltern verließen Bochum und zogen 1939 in die Schweiz zu Ernst Isings Schwester Charlotte Ising (sie war bereits 1933 ausgewandert). Das Haus der Isings wurde im zweiten Weltkrieg komplett zerstört. Eine Stele erinnert heute an das jüdische Leben in der Goethestraße.
  • Nach einer kurzen Suche nach einer neuen Stelle, die ihn auch als Lehrer nach Paris führte, unterrichtete Ernst Ising an einer jüdischen Privatschule in Berlin, in unmittelbarer Nachbarschaft des Sommerhauses der Familie Albert Einstein.
  • Nach den Pogromen, die 1938 begannen, wurde die jüdische Schule geschlossen und Ising und seine Frau emigrierten nach Luxemburg.
  • Ising überlebte die Nazizeit nur, weil er mit einer nichtjüdischen Frau verheiratet war.
  • Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wanderten Ising und seine Frau 1947 zusammen mit ihrem Sohn Thomas in die USA aus.
  • Ising arbeitete als Professor für Physik am Bradley College in Peoria, Illinois. Hier verbrachte er den Rest seines Lebens bis zu seinem Tod im Jahr 1998.

Großer Organisationsaufwand zahlt sich aus

Insgesamt vier Jahre hatten die Bochumer Mathematiker, um die Welttagung auf die Beine zu stellen. Zum Ende der Tagung ist man ein wenig erschöpft, aber sehr zufrieden: „Für uns als lokale Organisatoren war es natürlich ein großes Ereignis, diese bedeutendste Tagung in unserem Bereich nach Bochum geholt zu haben. Der große Organisationsaufwand hat sich definitiv gelohnt. Die Tagung war ein Erfolg. Ich habe viele brillante Forschungsbeiträge gehört, spannende Diskussionen verfolgt, inspirierende Gespräche geführt", so Herold Dehling.

Auch das Feedback der internationalen Stochastik-Elite fällt sehr positiv aus: „Das Programm ist so breit und umfassend. So viele Themen werden diskutiert. Da gehen große Dinge in den Köpfen vor – spannend!“, erzählt den Hollander begeistert. „Es gibt so viele interessante Sessions. Es fällt mir so schwer, mich da für eine zu entscheiden. Es ist großartig zu sehen, was alles aktuell in der Stochastik passiert“, ergänzt Zhang.

Wir brauchen diese Zusammenkünfte.


Prof. Dr. Frank den Hollander

„Es ist einfach wundervoll, dass sich die Bochumer so reingehängt haben, dieses Treffen zu organisieren. Wir brauchen diese Zusammenkünfte“, so den Hollander weiter. „Gerade der Austausch zwischen mathematischer Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie, den der Weltkongress so fördert, ist einzigartig und wichtig“, pflichtet Zhang bei.

Der Staffelstab wird nun von Bochum nach Singapur weitergereicht, wo dann 2028 der nächste Weltkongress stattfindet.

Veröffentlicht

Montag
19. August 2024
11:20 Uhr

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