Roland Weidle forscht und lehrt insbesondere zur Literatur der Shakespearezeit und frühen Neuzeit am Englischen Seminar der Fakultät für Philologie.
© Michael Schwettmann

Anglistik Shakespeares Odysseen

Warum Shakespeare hochpolitisch ist und welche langjährige Shakespeare-Tradition Bochum prägt, erklärt Roland Weidle, Professor der Anglistik, anlässlich der Jahrestagung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft in Bochum.

Shakespeares Odysseen: Zu diesem Thema findet vom 22. bis 24. April die Frühjahrstagung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft in Bochum statt. Studierende, Forschende und Interessierte nehmen auf dem Campus der RUB, im Kunstmuseum, im Schauspielhaus und Metropolis-Kino an Vorträgen, Seminaren, Diskussionsrunden, Filmvorführungen, Ausstellungen und Theateraufführungen teil. Im Rahmen der Tagung findet auch das „Shakespeare Seminar“ statt, das etablierten sowie jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Gelegenheit zum intensiven akademischen Austausch bietet. Außerdem wird die Tagung durch einen Workshop für Studierende und angehende Shakespeare-Forschende, die sogenannte Shakespeare Academy, begleitet. Im Interview erläutert Prof. Dr. Roland Weidle, Englisches Seminar der RUB und Vizepräsident der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft, die Bedeutung Shakespeares und der bevorstehenden Tagung.

Herr Prof. Weidle, Sie sind Vizepräsident der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft, die vor mehr als 150 Jahren gegründet wurde. Mit welchem Ziel?
Die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft wurde 1864 in Weimar gegründet und ist eine der ältesten literarischen Gesellschaften der Welt. Satzungsgemäß ist das Ziel der Gesellschaft, Shakespeare und das Wissen um seine Werke zu verbreiten. Und das geht weit über die akademische Institution hinaus. Denn die Shakespeare-Gesellschaft wurde nicht als typisch akademische Gesellschaft gegründet, sondern als Verein. Unter unseren Mitgliedern sind, nach wie vor, Privatpersonen, die ein Interesse für Shakespeare haben und nationale, internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die die Shakespeare-Forschung betreiben und befördern. Diese Heterogenität zeichnet die Gesellschaft aus. Uns alle eint unser Interesse für Shakespeare.

Wie werden Sie der Heterogenität der Mitglieder gerecht?
In den vergangenen Jahren haben wir verstärkt darauf geachtet, attraktive Formate für unterschiedliche Zielgruppen zu entwickeln. Dazu zählt zum Beispiel das Forum „Shakespeare und Schule“ für (angehende) Lehrerinnen und Lehrer, welches sich der Lehrpraxis widmet: Wie unterrichtet man Shakespeare am besten in der Schule? Ein anderes Format ist das sogenannte Shakespeare Seminar für Doktorandinnen und Doktoranden, die ihre Forschung in ungezwungener Atmosphäre vorstellen und diskutieren wollen. Wir laden auch weiterhin zu wissenschaftlichen Vorträgen von und für Shakespeare-Forschende ein. Und seit drei Jahren gibt es die sogenannte Shakespeare Academy, ein Workshop-Angebot für Studierende und Nachwuchsforschende.

Was entgegnen Sie Leuten, die Shakespeare für „verstaubt“ halten?
In den Schulen entsteht häufig der Eindruck, dass Shakespeare heute verpflichtend unterrichtet werden muss, weil er ein Klassiker ist. Dabei muss man vielmehr begründen, warum er denn ein Klassiker geworden ist, was sein Werk so interessant macht und warum es so aktuell ist.

(Warum) ist Shakespeare heute immer noch aktuell? Was können wir von seinen Werken lernen?
Zunächst ist Shakespeare ein hochpolitischer Autor, der in allen seinen Dramen kritische Fragen aufwirft, Macht und Herrschaftsstrukturen, Machterwerb und Machtentwicklung hinterfragt. Denken wir zum Beispiel an die Tragödie Coriolanus, ein hochaktuelles Stück. Mit welchen Maßnahmen rechtfertigt hier die herrschende Klasse ihre Position?

Shakespeare predigt nicht.


Roland Weidle

Shakespeare ist auch aktuell und modern, weil er nicht predigt. In Shakespeares Stücken werden unterschiedliche Aussagen, Positionen, Blickwinkel und Perspektiven diskutiert und ausgehandelt. Das stellt für Einige eine Schwierigkeit dar, denn es gibt keine einfache Antwort auf die Frage, wie Shakespeare eigentlich dazu steht. Es liegt an uns, Stellung zu beziehen und uns zu positionieren. Das gilt insbesondere für die Historiendramen, wie beispielsweise Heinrich der Sechste. Es gibt keine Schwarz-Weiß-Figuren. Auch die vermeintlich guten Herrscher haben Schattenseiten. Man muss bisweilen moralische und ethische Defizite gegen politische, strategische Führungsqualitäten abwägen – es ist ein ständiges Ausloten. Um es mit den Worten der Wissenschaftlerin Emma Smith zu sagen: Die Attraktivität von Shakespeares Werken liegt in ihrer „gappiness“, ihrer Lückenhaftigkeit.

Was begeistert Sie darüber hinaus an Shakespeares Werken?
Wie er mit der Sprache umgeht! Das ist originell und innovativ. Dann die Komik, der derbe Humor, der sehr modern und aktuell ist. Und natürlich die Art, wie er Figuren zeichnet, die Psychologisierung. Shakespeare war einer der ersten Dramatiker, der uns am Innenleben der Figuren hat teilhaben lassen. Das war Ende des 16. Jahrhunderts eine radikale Neuerung.

Dieses Jahr findet die Jahrestagung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft erneut in Bochum statt. Was verbindet gerade Bochum mit Shakespeare?
Die Beziehung zwischen der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft und Bochum ist historisch gewachsen. Der Ursprung der Kooperation geht mit Saladin Schmitt, dem ersten Intendanten des Bochumer Schauspielhauses, auf den Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Schmitt war erst Vizepräsident und später Präsident der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft. Er hatte es sich während seiner Intendanz zum Ziel gemacht, alle Dramen Shakespeares aufzuführen. Das ist ihm gelungen. Das Schauspielhaus Bochum gilt seit jeher als das Haus mit der ausgeprägtesten Shakespeare-Tradition in Deutschland. Denken wir an Zadek, Haußmann – die großen Shakespeare-Intendanten verbindet man alle mit Bochum.

Über Jahrzehnte ist ein enges Geflecht zwischen der Gesellschaft, dem Schauspielhaus, der RUB und Bochum gewachsen.


Roland Weidle

Gefestigt wurde die Kooperation mit der Gründung der Shakespeare-Gesellschaft West mit Sitz in Bochum in den 60er-Jahren und der Einrichtung der ersten Professur an der RUB, der Shakespeare-Professur von Ulrich Suerbaum, der dann auch Präsident der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft wurde und dieses Position für Jahre inne hatte. So ist über die Jahrzehnte ein enges, dichtes Geflecht zwischen der Gesellschaft, dem Schauspielhaus und der Universität gewachsen. Die Ruhr-Universität sowie die Stadt Bochum unterstützen die Tagungen seit Jahrzehnten tatkräftig – organisatorisch und finanziell. Viele Kultureinrichtungen sind daran interessiert, gemeinsam in Bochum die Shakespearetage auf die Beine zu stellen. Auch in diesem Jahr sind wieder das Kunstmuseum, das Schauspielhaus und das Metropolis-Kino beteiligt – das freut mich sehr.

Das Thema der diesjährigen Tagung lautet „Shakespeares Odysseen“? Was verbirgt sich dahinter?
Zum einen wird es um die Frage gehen, welche intertextuellen Bezüge Shakespeares Werke zu antiken Epen wie Homers Odyssee herstellen. Inwiefern bilden die Dichtungen, die Odyssee oder auch die Ilias eine Vorlage für, zum Beispiel, Shakespeares Stück Troilus und Cressida. Zum anderen geht es auch um das literarische Motiv der Odyssee, um Reisen, Irrwege, Irrfahren, Abenteuer, das Ankommen und Nicht-Ankommen, das Leiden der Protagonisten und Protagonistinnen. Diesen Topos findet man in vielen von Shakespeares Werken. Außerdem wird es um Shakespeares Odysseen, also die Odysseen seiner Werke, ihre Wirkungsgeschichte gehen.

Wir spannen einen Bogen von Homer bis Joyce.


Roland Weidle

Wir spannen also einen Bogen über die letzten 2.000 Jahre, von Homer über Shakespeare bis zu Woolf, Eliot und Joyce. Es geht damit nicht nur um den homerischen Text als Vorlage für Shakespeare, sondern auch um die Auseinandersetzung mit Shakespeares Figuren und Ideen zu Autorschaft und Originalität in Werken der Nach-Shakespeare-Zeit. So finden sich beispielsweise Anspielungen auf Shakespeares Dramen, wie etwa Hamlet, in fast jedem Kapitel von James Joyce Ulysses. Auf Joyce liegt dieses Jahr ein besonderer Fokus, weil wir die 100-jährige Ersterscheinung von Ulysses feiern – ein Werk, in das Shakespeare nahezu eingeschrieben ist. Damit befasst sich unter anderem ein Vortrag meines Kollegen Burkhard Niederhoff.

Zum Programm der Tagung zählen auch Aufführungen und Ausstellungen. Was erwartet das Publikum dieses Jahr?
Das Schauspielhaus Bochum wird anlässlich unserer Tagung am Freitag Peer Gynt und am Samstag Lorenzaccio von Alfred de Musset und George Sand aufführen. Auf die Aufführungen folgt jeweils ein Publikumsgespräch. Im Metropolis-Kino werden unter anderem Spielbergs West Side Story und die Neu-Verfilmung von Macbeth mit Denzel Washington zu sehen sein. Zudem wird es eine Posterpräsentation zu Shakespeares Botanik sowie einen Spaziergang zu Shakespeares Bäumen im Bochumer Stadtpark geben.

Auf welchen Programmpunkt freuen Sie sich besonders?
Wir sind eine literarische Gesellschaft und das bedeutet, dass alle willkommen sind, und das wollen wir noch mehr forcieren und vermitteln – auch in unserem Tagungsprogramm. Dieses richtet sich nicht nur an ein akademisches Publikum, sondern auch an Praktikerinnen und Praktiker. Denn wir verstehen Shakespeare nicht nur als Text, der studiert, gelernt und gelehrt wird, sondern auch als Text, der umgesetzt wird und Teil von gesellschaftlichen Strukturen ist.

Ich bin daher besonders gespannt auf das Werkstattgespräch mit Johan Simons, dem aktuellen Intendanten des Schauspielhauses, und der Dramaturgin Angela Obst. Unsere Mitglieder sind dazu eingeladen, ihnen direkt Fragen zur Theaterpraxis zu stellen: Wie rechtfertige ich die aktuelle Spielplanpolitik? Warum soll man Shakespeare noch spielen?

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Veröffentlicht

Donnerstag
21. April 2022
09:25 Uhr

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