Immer für die Arbeit erreichbar sein müssen: Dieses Gefühl stresst. Dabei würden es viele Vorgesetzte gar nicht übelnehmen, wenn man mal nicht ans Telefon gehen würde. © Roberto Schirdewahn

Psychologie Den Feierabend zurückerobern

Feierabend. Rechner aus. Aber der Kopf rattert weiter. Wenn dann noch das Diensthandy verführerisch aufleuchtet, ist man schnell wieder bei der Arbeit. Wie man dieser Spirale entkommt, erforscht Marcel Kern.

„Meine Forschung ist eigentlich entstanden, weil ich selbst betroffen war“, erzählt Marcel Kern, Professor für Arbeit und Gesundheit an der RUB. „Ich konnte abends oft nicht abschalten und hab mich gefragt: Warum kann ich nicht loslassen?“ Dass die Gedanken auch nach Feierabend um die Arbeit kreisen, hält viele vom Einschlafen ab. Marcel Kern geht diesem Phänomen in seiner Forschung nach. Er erhebt, wie sich digitale Technologien und mobile Arbeit auf das Wohlbefinden auswirken und entwickelt Strategien, die Menschen helfen, den Stress durch die Arbeit zu reduzieren. Dabei kooperiert er seit Längerem intensiv mit Prof. Dr. Sandra Ohly von der Universität Kassel.

„Es gibt viel Forschung dazu, dass die Nutzung digitaler Technologien erschöpft“, sagt Marcel Kern. Oft wird angenommen, dass Menschen aufgrund der digitalen Erreichbarkeit nicht von der Arbeit abschalten können. Aber liegt das wirklich an den digitalen Medien per se? Das wollten Marcel Kern, Clara Heißler und Sandra Ohly herausfinden. An fünf aufeinanderfolgenden Tagen ließen sie Beschäftigte aus unterschiedlichen Wirtschaftsunternehmen dreimal täglich einen Fragebogen ausfüllen. Wie viele Stunden wurde das Handy für die Arbeit genutzt? Gab es bei Feierabend noch viele unerledigte Aufgaben? Wie gut konnte abends abgeschaltet werden? 340 Personen beantworteten diese und viele weitere Fragen.

Digitale Technik allein stresst nicht

Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer mussten ein Diensthandy und ein privates Handy haben. „So konnten wir die Effekte leichter trennen“, erklärt Kern. „Eigentlich sollte ein separates Diensthandy es sogar leichter machen, von der Arbeit abzuschalten – aber es gelang vielen trotzdem nicht.“ Der Stress entstand aber nicht durch die reine Nutzung der digitalen Technik, sondern nur dann, wenn ein Berg an unerledigten Aufgaben wartete, der eine Nutzung der Technik erforderte. Um sinnvolle Gegenmaßnahmen empfehlen zu können, ist es für die Forschenden wichtig zu unterscheiden, ob Menschen nicht abschalten können, weil sie das Handy nutzen, oder ob sie zum Handy greifen, weil sie nicht abschalten können. Letzteres scheint der Fall zu sein.

Das Thema, an dem er forscht, kennt er aus eigener Erfahrung: Marcel Kern geht der Frage nach, wie man Menschen vor zu viel Stress durch die Arbeit schützen kann. © Roberto Schirdewahn

„Nach Feierabend sollte das Diensthandy ausgeschaltet werden oder man sollte Push-Nachrichten auf ein Minimum reduzieren“, rät Marcel Kern. Es sei normal, dass man manchmal Gedanken an die Arbeit mit in den Feierabend nehme. „Oft bleiben diese Gedanken unter der Oberfläche – bis das Handy aufleuchtet und einen daran erinnert“, sagt er. Dann ist der Griff zum Smartphone schnell getan, und schon ist der Kopf wieder bei der Arbeit.

Vier Tipps für entspannteres Arbeiten und leichteres Abschalten
  1. Zeiten ohne Unterbrechungen schaffen: Zweimal am Tag eine Stunde, in denen das Mailprogramm geschlossen und das Handy ausgeschaltet wird, reichen oft aus, um entspannte Konzentrationsphasen zu ermöglichen. „Für diese Zeit ist man in der Regel auch verzichtbar“, sagt Marcel Kern. Er weiß, dass Menschen sich schon davon ablenken lassen, wenn ihr Handy nur auf dem Tisch liegt. Zumindest sollte man es umdrehen, um eingehende Benachrichtigungen nicht wahrzunehmen.
  2. Routinen im Homeoffice schaffen: Wer zuhause arbeitet, sollte sich ein Ritual überlegen, um den Feierabend einzuläuten. Viele Menschen lassen den PC laufen und kehren später noch einmal zurück. Um den Kopf abzuschalten, sollte man auch den Rechner ausschalten und zum Beispiel einmal um den Block gehen. Manchen Leuten hilft es auch, die Kleidung zu wechseln, um aus dem Arbeitsmodus zu kommen. Hilfreich ist es auch, wenn man die Tür zum Arbeitszimmer schließen kann.
  3. Push-Nachrichten ausstellen oder auf ein Minimum reduzieren: Jedes visuelle oder akustische Signal reicht, um an die Arbeit zu erinnern. Selbst wenn die Mail-App nur anzeigt, dass drei neue Nachrichten eingegangen sind, kann allein dieses Zahlensymbol schon dazu verleiten, sich damit zu befassen. Besser ist es, die Apps so einzustellen, dass sie neue Nachrichten erst empfangen, wenn sie geöffnet werden.
  4. Klare Vereinbarungen mit der Führungskraft treffen: Die wenigsten Führungskräfte nehmen es krumm, wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sie auf das Thema Erreichbarkeit ansprechen. Klare Regelungen, wann was zu tun ist oder wann man erreichbar zu sein hat, helfen.

Der Bochumer Psychologe sucht nach Wegen, wie man Menschen davon abhalten kann, sich selbst durch zu viel Arbeit zu schaden. „Gesetzgeberisch ist kaum etwas zu machen“, weiß er. „Es gibt keine globale Regelung, die für alle Arbeitgeber funktioniert.“ Er gibt ein Beispiel: „Volkswagen hat abends seine Mailserver abgeschaltet. Das führte dazu, dass die Leute E-Mails in ihrem Postausgang aufbewahrten oder sogar über ihre privaten Accounts verschickten.“

Nicht alle wollen Berufliches und Privates trennen

Bedenken muss man, dass die Nutzung von Technologien am Abend auch gewinnbringend sein kann. So ist es für manche Personen leichter, erst die Kinder ins Bett zu bringen und dann in Ruhe noch etwas für die Arbeit zu erledigen. „Manche Menschen möchten auch, dass Beruf und Privatleben verschmelzen“, berichtet Marcel Kern. In Deutschland trifft das allerdings nur auf ein Drittel der Arbeitnehmerinnen und -nehmer zumindest teilweise zu. Zwei Drittel wünschen sich eine klare Trennung von Beruf und Privatleben. In der Praxis gelingt diese Trennung aber nur bei einem Drittel. Der Rest muss auch außerhalb der Dienstzeiten für den Arbeitgeber erreichbar sein – oder empfindet das zumindest so.

Die digitale Technik hat den Arbeitsalltag verändert. Inwiefern sie für Stress auf der Arbeit verantwortlich ist, interessierte Bochumer Forschende. © Roberto Schirdewahn

Wie Marcel Kern in weiteren Befragungen herausfand, kommt das Gefühl, erreichbar sein zu müssen, in der Regel durch das Verhalten der Führungskräfte zustande. Die Mitarbeitenden orientieren sich an dem, was die Führungskräfte tun. Und wenn diese spät abends noch Mails verschicken, erzeugt das im restlichen Team den Eindruck, ebenfalls erreichbar sein zu müssen. In einer Studie – erneut in Kooperation mit dem Kasseler Team von Sandra Ohly – untersuchte Marcel Kern, wie man gegensteuern kann.

Mehr Zufriedenheit nach Führungskräfte-Schulung

23 Führungskräfte eines Wirtschaftsunternehmens nahmen an einem Training teil. In diesem sensibilisierten die Forschenden sie dafür, wie das eigene Verhalten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beeinflussen kann. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler empfahlen beispielsweise, feste Vereinbarungen zur Erreichbarkeit mit dem Team zu treffen. Oder auch zu erklären, warum eine Führungskraft spät abends noch E-Mails versendet – zum Beispiel weil es so für sie leichter mit den Pflichten in der Kinderbetreuung zu vereinbaren ist.

Den Führungskräften war gar nicht bewusst gewesen, wie sich ihr Verhalten ausgewirkt hatte.


Marcel Kern

Vor dem Training und ungefähr sechs Wochen danach befragten die Forschenden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Führungskräfte: Wann glaubten sie, für ihr Unternehmen erreichbar sein zu müssen? Konnten sie abends abschalten? Wie gestresst waren sie von der Arbeit? „Die Ergebnisse waren eindeutig“, resümiert Marcel Kern. „Einige Zeit nach der Intervention fühlten sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter deutlich besser. Die Führungskräfte waren davon überrascht. Ihnen war gar nicht bewusst gewesen, wie sich ihr Verhalten ausgewirkt hatte.“

Informationsflut im Mailpostfach

Kleine Veränderungen können also einen großen Einfluss auf die Mitarbeiterzufriedenheit haben. Neben Vereinbarungen zur Erreichbarkeit kann Marcel Kern weitere Stellschrauben nennen: „Viele Menschen empfinden einen E-Mail-Overload, und das Gefühl der Informationsüberflutung beeinflusst ihr Wohlbefinden“, weiß er. Auch zu diesem Thema hat er zusammen mit Sandra Ohly geforscht.

Die Informationsflut im E-Mail-Eingang ist ein bekanntes Phänomen. Wie man Abhilfe schaffen könnte, hat Marcel Kern mit Kolleginnen aus Kassel erforscht. © Roberto Schirdewahn

Es gab zwar bereits Studien zum E-Mail-Overload; aber diese hatten alle Arten von E-Mails in einen Topf geworfen. Ohly und Kern unterschieden hingegen zwischen E-Mails mit direkten Aufgabenbezügen – „Bitte die Präsentation bis kommende Woche fertigstellen“ – und kommunikativen E-Mails, in denen beispielsweise ein neuer Prozess erklärt wird. „Kommunikative E-Mails sind oft die typischen Cc-E-Mails“, sagt Kern. Und genau diese erzeugen das Gefühl der Informationsüberflutung.

Menschen können schlecht mit Unterbrechungen umgehen.


Marcel Kern

Als Gegenmaßnahme empfiehlt er: „Es ist sinnvoll, im Team zu verabreden, wer welche Informationen bekommen soll. Manche Mitarbeiter setzen die Führungskraft immer in Cc, weil sie denken, das tun zu müssen, um ihre Arbeit sichtbar zu machen. Hier kann eine Absprache helfen.“ Eine andere Lösung könne sein, E-Mails zu bündeln. Eine Infomail pro Woche oder pro Monat mit gesammelten Informationen könne besser verdaut werden. Hinzu kommt: „Menschen können schlecht mit Unterbrechungen umgehen“, so Marcel Kern. „Das Ping einer E-Mail reicht schon aus, um uns aus dem rauszureißen, was wir tun; wir sind halt neugierig.“

Weniger Push, mehr Entspannung

Die Ergebnisse seiner Studien hat er mittlerweile auch in sein eigenes Verhalten einfließen lassen – und merkt positive Effekte. „Ich habe Push-Nachrichten weitestgehend ausgeschaltet“, verrät er. „Manchmal dauert es 24 Stunden, bis ich auf eine WhatsApp-Nachricht reagiere.“ Anfangs habe das sein Umfeld irritiert. Mittlerweile hätten sich alle daran gewöhnt. Das Ergebnis: „Ich kann inzwischen auf jeden Fall besser abschalten.“

Mobiles Arbeiten

Die Coronapandemie hat in vielen Institutionen mobiles Arbeiten möglich gemacht. Aber nicht alle Orte sind wirklich für die Arbeit geeignet. © Roberto Schirdewahn

In der Coronapandemie haben viele Arbeitgeber das mobile Arbeiten entdeckt. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erledigen ihre Aufgaben nicht nur im Homeoffice, sondern auch von unterwegs oder mal im Café. Eine positive Entwicklung? „Wir haben eine Befragung dazu gemacht und waren von den Ergebnissen überrascht“, sagt Marcel Kern. „Beim mobilen Arbeiten sinkt das Energielevel viel stärker ab als im Büro.“ Einen Grund sieht er in den oft suboptimalen Arbeitsbedingungen außerhalb des Büros. Der offizielle Dienstplatz ist in der Regel nach gewissen Standards eingerichtet. An anderen Plätzen passt oft die Helligkeit nicht, es gibt keinen vernünftigen Schreibtischstuhl oder ist zu laut. „Zuhause gibt es oft mehr Störungen“, so Kern und meint: „Mobiles Arbeiten sollte auf keinen Fall so ungeregelt sein, dass man überall arbeiten kann. Die wenigsten Leute haben ein Bewusstsein dafür, wie wichtig die richtigen Arbeitsbedingungen sind.“ Hier sieht er beispielsweise die Führungskräfte in der Pflicht, die Mitarbeitenden entsprechend darauf hinzuweisen.

Originalveröffentlichungen
  • Clara Heissler, Marcel Kern, Sandra Ohly: When thinking about work makes employees reach for their devices: A longitudinal autoregressive diary study, in: Journal of Business and Psychology, 2022, DOI: 10.1007/s10869-021-09781-0
  • Marcel Kern: Raubt uns das Homeoffice die Energie und Erholung? Eine Längsschnittstudie auf Tagesebene, 52. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Hildesheim, Deutschland, 2022

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Veröffentlicht

Donnerstag
22. September 2022
09:11 Uhr

Dieser Artikel ist am 2. November 2022 in Rubin 2/2022 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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