Verspätung oder Flug annulliert? Betroffene können ihre Rechte heutzutage mithilfe von Onlinediensten durchsetzen. © Roberto Schirdewahn

Recht Von der Couch aus klagen

Die Digitalisierung krempelt viele Arbeitsbereiche um. Auch klassische Anwaltskanzleien verspüren Druck von einer zuvor nicht da gewesenen Konkurrenz.

Wer öfter mal mit dem Flieger unterwegs ist, hat sicher schon größere Verspätungen oder gar einen Flugausfall erlebt. Dann stellt sich schnell die Frage, welche Rechte man als Fluggast hat. Manch einer kümmert sich aus Unwissenheit oder Sorge vor langwierigen Streitigkeiten mit der Airline vielleicht gar nicht darum, die rechtmäßige Entschädigung zu erwirken. Aber was, wenn dazu nur ein paar Klicks am Computer nötig wären? Einfach Flugdaten eingeben, Ticket hochladen und einen Onlinedienstleister den Rest erledigen lassen. Mittlerweile geht es so einfach. „Seit 2015 boomen solche Legal-Tech-Angebote“, sagt Prof. Dr. Britta Rehder, Leiterin des RUB-Lehrstuhls Politikwissenschaft/Politisches System Deutschlands. Gemeinsam mit Prof. Dr. Birgit Apitzsch, Inhaberin des Lehrstuhls Soziologie/Arbeit, Wirtschaft und Wohlfahrt, forscht sie zu digitalen Rechtsdienstleistungen.

Der Boom dieser Dienste begann im Verbraucherschutz. Neben der Durchsetzung von Fluggastrechten brachte der Dieselskandal den Legal-Tech-Anbietern viele Mandantinnen und Mandanten ein. Mittlerweile hat sich die Branche in andere Rechtsbereiche ausgedehnt, etwa ins Sozial- und Arbeitsrecht. Hierfür interessieren sich Birgit Apitzsch und Britta Rehder besonders. Gefördert vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales nahmen die Forscherinnen von 2018 bis 2021 daher zunächst Legal-Tech-Angebote im Sozialrecht unter die Lupe. Anschließend starteten sie, unterstützt von der Hans-Böckler-Stiftung, ein Projekt mit Fokus auf das Arbeitsrecht. Es läuft noch bis 2024.

Drei Legal-Tech-Entwicklungsstufen

Im Bereich von Legal Technology sind drei Entwicklungsstufen denkbar. Die erste unterstützt das juristische Handeln nur, aber lässt es im Kern unverändert. Beispiele sind Rechtssprechungsdatenbanken oder Plattformen, die Anwältinnen und Mandanten zusammenbringen. Die zweite Entwicklungsstufe beschreibt die automatisierte Prüfung standardisierter juristischer Tätigkeiten, etwa das Prüfen eines Vertrags oder Bescheids. Hier werden Aufgaben von Menschen teilweise durch Algorithmen ersetzt. Die dritte Entwicklungsstufe ist noch Fiktion: Künstliche Intelligenz könnte menschliches juristisches Handeln in einigen Segmenten des Rechtsmarkts ersetzen. Noch gibt es aber keinen einzigen Anwendungsfall hierfür.

Die Wissenschaftlerinnen wollen herausfinden, welche Themen Legal-Tech-Dienstleister bedienen, für welche Zielgruppen ihre Angebote interessant sind, wer die Anbieter eigentlich sind und welche Geschäftsmodelle sie haben. Zusätzlich interessieren sie sich für die Auswirkungen der digitalen Rechtsdienstleistungen auf etablierte Akteure wie Rechtsanwälte und Richterinnen, aber auch Gewerkschaften oder Wohlfahrtsverbände, die Rechtsberatungen zu ihren Dienstleistungen zählen.

Das Ende der Anwaltschaft?

„Wenn man sich Publikationen von Rechtsanwälten zu dem Thema anschaut, ist die Stimmung alarmistisch“, weiß Birgit Apitzsch. „Dann ist vom Ende der Anwaltschaft die Rede und dass möglicherweise eines Tages irgendeine Alexa alle Rechtsstreitigkeiten klärt.“ Inwiefern Legal Technology die juristische Berufsbranche wirklich umkrempeln kann, wollen die Bochumer Wissenschaftlerinnen ergründen. Zunächst verschafften sie sich einen Überblick über die Branche und ihr Angebot. Das ging am besten mit einer Onlinerecherche. „Ein Legal-Tech-Anbieter, der nicht mit gängigen Suchbegriffen auf Google gefunden wird, hat eigentlich kein Geschäftsmodell“, bringt Britta Rehder es auf den Punkt.

Die Anbieter picken sich die Rosinen aus verschiedenen Rechtsgebieten heraus.


Britta Rehder

Also googelten die Forscherinnen. Sie stießen auf rund 50 Onlinedienste im Bereich des Sozialrechts und etwa 90 im Bereich des Arbeitsrechts, die den deutschen Markt bedienen. Allerdings – und das war die erste Erkenntnis des Projekts – sind die Anbieter selten auf nur einen Rechtsbereich spezialisiert. „Sie picken sich die Rosinen aus verschiedenen Rechtsgebieten heraus“, veranschaulicht Rehder. „Interessant sind für sie nur die Fälle, die mutmaßlich ein gutes Geschäft versprechen.“ Und das ist alles, was sich standardisiert und automatisiert bearbeiten lässt. Komplizierte Fälle können die Digitalanbieter nicht gebrauchen. Sie prüfen daher im ersten Schritt, ob sie einen Fall annehmen oder nicht.

Prüfung durch Maschinen

Ein beliebtes Betätigungsfeld im Sozialrecht ist es etwa, Hartz-IV-Bescheide anzufechten. Die Legal-Tech-Kanzlei Rightmart aus Bremen hat bereits zehntausende sozialrechtliche Widersprüche und Klagen von Hartz-IV-Berechtigten bearbeitet. Außerdem bieten viele Legal-Tech-Firmen arbeitsrechtliche Prüfungen von Kündigungen oder Abmahnungen an. Dazu müssen sie die Texte nur von Maschinen nach bestimmten Formulierungen durchsuchen lassen – ohne dass ein Mensch sich die Dokumente zu Gemüte führen muss.

„Dieses Vorgehen setzt herkömmliche Anwälte unter Druck“, sagt Britta Rehder. Denn die digitale Konkurrenz schöpft vor allem die einfach zu handhabenden lukrativen Fälle ab. Im Fall von Widersprüchen gegen Hartz-IV-Bescheide bemessen sich die Kosten nach der Gebührenordnung für Anwälte. In Arbeitsrechtsfällen, in denen es beispielsweise um eine Abfindung geht, sichern sich Legal-Tech-Anbieter eine prozentuale Beteiligung an der erstrittenen Summe. Die Anbieter bedienen somit oft spezifische Rechtsfragen aus unterschiedlichen Rechtsgebieten, die sie aber nur selten systematisch abdecken. „In der Regel stecken keine Fachanwälte hinter den Angeboten, sondern eher wenig spezialisierte Anwälte mit Unternehmergeist“, sagt Britta Rehder.

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Digitale Konkurrenz macht Etablierten Druck

Die Legal-Tech-Anbieter bedienen dabei Märkte, die sie selbst nicht generieren können. Die Empörung über Hartz IV beispielsweise hat ihnen viele Mandantinnen und Mandanten zugespült. „Wenn das neue Bürgergeld kommt und die Leute damit zufriedener sind, kann so ein Markt schnell wieder zusammenbrechen“, erklärt Rehder. „Die Geschäftsmodelle sind aktuell sehr im Fluss.“ Trotzdem spüren die etablierten Akteure im Rechtssystem den Druck der digitalen Konkurrenz.

Birgit Apitzsch (links) und Britta Rehder kooperieren bei der Forschung zu digitalen Rechtsdienstleistungen. © Fabian Riedinger (links) / privat (rechts)

Das Bochumer Forschungsteam führte und führt derzeit Interviews mit unterschiedlichen Stakeholdern. Das Interesse, sich zu beteiligen, ist generell groß – und die Relevanz scheint zu steigen. „Als wir vor wenigen Jahren mit Wohlfahrtsverbänden über Legal-Tech-Angebote gesprochen haben, war das Thema Legal Tech eher exotisch bis unbekannt“, erinnert sich Apitzsch. Die Verbände gingen davon aus, dass sie mit ihrer persönlichen Beratung ein Produkt außer Konkurrenz anbieten würden. Als die Corona-Pandemie die persönlichen Kontakte eingeschränkt hat, hat das den Druck auf die Verbände erhöht, sich ebenfalls mit der Digitalisierung auseinanderzusetzen.

Anwälte vor Ort bleiben notwendig

„Allerdings haben die Legal-Tech-Anbieter auf der anderen Seite unterschätzt, was die Menschen für einen Redebedarf haben“, schildert Birgit Apitzsch ein Fazit der Studie. „Die juristischen Konflikte vermischen sich häufig mit sozialen Konflikten. Ein Anwalt muss das erst einmal sortieren.“ Für solche komplizierten Fälle sind die digitalen Kanzleien nicht gemacht.

Ganz ohne echten Anwalt geht es auch bei digitalen Rechtsdienstleistungen nicht immer. Wenn ein Fall vor Gericht verhandelt werden muss, greifen die Legal-Tech-Anbieter auf ein Netzwerk von vor Ort ansässigen Anwälten zurück, die Gerichtstermine übernehmen. Nicht immer klappt das reibungslos. © Roberto Schirdewahn

Problematisch wird es auch dort, wo ein Fall die Grenze zwischen digitaler und analoger Welt überschreitet: nämlich, wenn es zur Gerichtsverhandlung kommt, bei der ein Anwalt anwesend sein muss. Für solche Zwecke arbeiten die Onlinekonzerne mit Anwälten in ganz Deutschland zusammen, die Gerichtstermine für sie übernehmen. „Allerdings hört man manchmal Klagen, dass diese Anwälte nicht immer gut vorbereitet seien“, so Rehder. „Ich bin selbst als ehrenamtliche Richterin tätig und habe es auch schon erlebt, dass Anwälte gar nicht erschienen sind. Das geht dann zulasten des Mandanten oder der Mandantin.“

Die Digitalisierung ist auf jeden Fall ein Thema für Anwaltskanzleien, aber der Umgang damit ist sehr unterschiedlich.


Birgit Apitzsch

Insgesamt zeichnen die Forscherinnen bislang ein ambivalentes Bild von den Legal-Tech-Angeboten. „Die Digitalisierung ist auf jeden Fall ein Thema für Anwaltskanzleien, aber der Umgang damit ist sehr unterschiedlich“, schildert Birgit Apitzsch. Natürlich werde Legal Tech als Konkurrenz angesehen. Nicht nur von Anwälten, sondern beispielsweise auch von Gewerkschaften, für die die Rechtsberatung ein wichtiger Service zur Mitgliedergewinnung ist. „Allerdings bietet Legal Tech auch einen niedrigschwelligen Zugang für Leute, die sonst vielleicht nie vor Gericht gezogen wären“, so Apitzsch. Gewerkschaften oder Verbände könnten solche Tools also auch nutzen, um Leute zu mobilisieren und Bewegung in bestimmte Themen zu bringen. Ohne einen Online-Rechtsdienstleister wäre es beispielsweise nie möglich gewesen, die Tausenden von Klagen im Dieselskandal über Ländergrenzen hinweg zu bündeln. So hat die Technik entscheidend zum Kollektivklagerecht beigetragen.

Die Hürde, vor Gericht zu ziehen oder auch nur zum Anwalt zu gehen, ist für viele hoch. Durch digitale Rechtsdienstleistungen wagen auch Menschen den Schritt, eine juristische Auseinandersetzung einzugehen, die sonst vielleicht nie geklagt hätten. © Roberto Schirdewahn

Gerade im Bereich des Verbraucherschutzes mit Gesundheitsaspekten erwarten die Bochumer Forscherinnen einen weiteren Boom für die Legal-Tech-Firmen. „In den USA ist das bereits ein Riesenmarkt – und ich erwarte eine kleine Amerikanisierung unseres deutschen Rechtssystems“, prognostiziert Rehder.

Originalveröffentlichungen

Britta Rehder, Birgit Apitzsch, Berthold Vogel: Legal Technology im Arbeitsrecht, in: Arbeit, 2021, DOI: 10.1515/arbeit-2021-0023

Philip Schillen, Birgit Apitzsch, Britta Rehder, Berthold Vogel: Zivilgesellschaftliche Beratung und digitale Rechtsdienstleistungen – alte und neue Anwälte schwacher Interessen?, in: WSI-Mitteilungen, 2022, DOI: 10.5771/0342-300X-2022-1-29

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Veröffentlicht

Dienstag
11. Oktober 2022
09:39 Uhr

Dieser Artikel ist am 2. November 2022 in Rubin 2/2022 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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