Sozialwissenschaft „Dexter, ich brauche Hilfe beim Aufstehen!“
Am Ende eines Arbeitstages haben Pflegerinnen und Pfleger einige Kilometer in den Knochen. Wie schön wäre es, ein paar Wege sparen zu können. Sprachassistenten könnten es möglich machen.
Im Stationszimmer leuchtet ein Lämpchen auf – die Patientin auf Zimmer 4 hat den Schwesternruf betätigt. Schwester Claudia beendet schnell ihr Telefonat und macht sich auf den Weg über den Flur. Sie beeilt sich – immerhin ist die Patientin hochbetagt, und heute früh war sie nicht allzu gut zurecht. „Hallo Frau Schulte, was gibt es denn?“, erkundigt sich die Schwester vor Ort besorgt. „Ach, ich hätte nur gerne eine Tasse Kaffee, geht das?“, bittet die alte Dame freundlich. „Ja, sicher!“ Die Schwester ist beruhigt und steuert den Aufenthaltsbereich der Station an der gegenüberliegenden Seite des langen Gangs an. Mit der gewünschten Tasse Kaffee läuft sie zurück ins Zimmer der Patientin und macht sich dann wieder auf ins Stationszimmer, um ihren Gesprächspartner zurückzurufen.
Ein Kaffee ohne Sorgen
Mit dexter hätte sie sich zwei Gänge und ein paar Minuten sparen können. Und Sorgen um die Patientin hätte sie sich auch nicht machen müssen. Das Sprachassistenzsystem dexter ist – ähnlich wie seine Verwandten Alexa, Siri und Co. – ein smarter Lautsprecher. Ebenso wie sie benötigt er ein Codewort, das ihn aufweckt. Dann kann er ganz verschiedene Dinge: beispielsweise eine Sprechverbindung zwischen Patienten- und Stationszimmer herstellen, damit Frau Schulte um einen Kaffee bitten und Schwester Claudia ihn gleich mitbringen kann, ohne mehrmals hin und herlaufen zu müssen. Er könnte dem Pflegepersonal auch einen Prioritätenvorschlag machen, wenn mehrere Anfragen aus mehreren Zimmern vorliegen. Der Kaffeewunsch würde dann der Pflegekraft mit weniger Dringlichkeit vorgeschlagen als beispielsweise die Bitte, beim Gang zur Toilette unterstützt zu werden, oder gar ein möglicher Notfall. Dexter könnte auch als Übersetzer einspringen, wenn die Kommunikation zwischen Personal und Patient aufgrund sprachlicher Schwierigkeiten hakt. Oder er könnte direkt vom Bett aus auf der Basis gesprochener Sätze bei der Dokumentation helfen, die im klinischen Alltag viel Zeit braucht.
„Möglichkeiten gibt es jede Menge“, fasst Prof. Dr. Sebastian Merkel zusammen. Der Juniorprofessor für Gesundheit und E-Health aus der Fakultät für Sozialwissenschaft der RUB und sein Team wollen wissen: Welche Möglichkeiten sind sinnvoll? Was wünschen sich Pflegende? Wollen sie eigentlich Unterstützung durch technische Mittel? Wie integrieren Sie dexter ihren Arbeitsalltag oder eben auch nicht? Wie nehmen Patienten und Personen, die in Seniorenheimen leben, das System an? Diese Fragen beantworten sie im Projekt „dexter“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung seit September 2021 für zwei Jahre gefördert wird. Die Federführung hat das Start-up „dexter health“, das den Smartspeaker dafür eigens entwickelt hat. „Letzteres ist von großer Bedeutung, weil wir allein schon aufgrund von Datenschutz nicht auf kommerzielle Smartspeaker zurückgreifen können“, erklärt Merkel. Immerhin geht es um sensible Daten des Gesundheitswesens.
Dexter und der Datenschutz
Der dexter-Speaker entspricht der Europäischen Datenschutzgrundverordnung. Bei kommerziellen Systemen ist nicht nachvollziehbar, wohin die erhobenen Daten möglicherweise weitergegeben werden. „Deswegen gibt es gegen sie auch große Vorbehalte vor allem seitens des Managements und der IT-Abteilungen von Krankenhäusern und Pflegeheimen“, so Merkel. Bei dexter ist der Datenfluss steuerbar und verlässlich.
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In mehreren Workshops diskutierten Merkel und sein Team mit Pflegekräften, was sie sich vorstellen können und wünschen würden, wenn es ein Sprachunterstützungssystem gäbe, das datenschutzkonform einsetzbar wäre. „Es gibt ein landläufiges Narrativ, dass Pflegende solche technische Unterstützung generell eher ablehnen, weil sie ihren Beruf als menschennah auffassen und sich durch Technik darin gestört fühlen“, berichtet Sebastian Merkel. „Das wollten wir auf die Probe stellen und herausfinden, ob das wirklich stimmt oder ob es sich vielleicht auch verselbständigt hat und längst nicht mehr zutrifft.“
„Viele sagen: ‚Wenn ich unliebsame Tätigkeiten an das System delegieren könnte, wäre das toll!‘"
Sebastian Merkel
Von den Ergebnissen der Workshops waren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler überrascht: „Es gab nur sehr wenige Vorbehalte bei den Teilnehmenden gegenüber einem Sprachassistenzsystem“, so der Forscher. „Vielleicht liegt das daran, dass viele zu Hause schon so ein System im Einsatz haben und daran gewöhnt sind“, mutmaßt er. Vielleicht findet aber auch eine Abwägung statt zwischen der Zeitersparnis, die der Einsatz eines solchen Systems bringt, und den möglichen Nachteilen, die zugunsten des Systems ausfällt.
„Nach ihren Wünschen an ein solches System gefragt, haben viele gesagt: ‚Wenn ich unliebsame Tätigkeiten an das System delegieren könnte, wäre das toll!‘“, berichtet Sebastian Merkel. Allem voran wünschten sich die Pflegenden Unterstützung bei der Dokumentation. Auf Platz zwei stand die Unterstützung bei Übungen in der Therapie oder Rehabilitation. „In der Logopädie oder in der Ergotherapie gibt es manche Übungen, die oft wiederholt werden müssen, praktisch wie eine Hausaufgabe, und bei denen viele Patientinnen und Patienten eher unmotiviert sind“, erklärt Sebastian Merkel. „Ein System wie dexter könnte sie an die Übung erinnern und sie dazu ermuntern. Es könnte die Übung vielleicht auch kontrollieren oder aufzeichnen, damit die Therapeutin sie später überprüfen kann.“
dexter ist überall
Im nächsten Schritt wollen die Forschenden sich die Interaktionsmuster von Personen mit dem Gerät anschauen. Dazu sollen zunächst Szenarien simuliert werden, in denen dexter zum Einsatz kommt, etwa ein Stationszimmer auf einer geriatrischen Station eines Praxispartners. Die teilnehmenden Versuchspersonen werden vorab nur teilweise eingewiesen, weil es darum geht, wie sie sich dem System gegenüber verhalten. Akzeptieren sie es? Ignorieren sie es? Entsteht eine persönliche Beziehung zu dem Gerät – immerhin hat es einen Namen? Wie sehen die Emotionen ihm gegenüber aus? Gibt es Frust, zum Beispiel wenn dexter auch beim dritten Mal nicht versteht, was man ihm sagt?
„Das Sprachsystem unterscheidet sich in drei Punkten von anderen technischen Geräten, die uns täglich umgeben“, erläutert Sebastian Merkel. „Erstens: Es spricht. Das tut keines unserer bisherigen Bürogeräte. Zweitens: Es fehlt ein klassisches Interface wie etwa ein Monitor. Dexter ist ambient, das bedeutet, es ist überall. Drittens: Im Hintergrund arbeitet eine Künstliche Intelligenz.“ Die Interaktion mit solchen Systemen im beruflichen Kontext ist noch nahezu unerforscht. Das dexter-Projekt wird das ändern. Vielleicht gehört dexter dann in wenigen Jahren ganz selbstverständlich zum Team.