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Fake News aus unterschiedlichen Perspektiven
Forschende unterschiedlicher Fachrichtungen beleuchten im Buch „Fake News in Literatur und Medien – Fakten und Fiktionen im interdisziplinären Diskurs“ Falschinformationen in Bezug auf den jeweiligen historischen, gesellschaftlichen und politischen Zusammenhang: von der Informationsvermittlung über die Beeinflussung der öffentlichen Meinung bis hin zur gezielten Täuschung.
Die Reise durch die Geschichte und Gegenwart der Fake News und ihrer Auswirkungen erfolgt anhand von Beispielen, die nicht ausschließlich aus Sicht von Historikern erläutert werden, sondern auch von Expertinnen und Experten der Politik- und Literaturwissenschaft, Jura, Sprachphilosophie, Kunstgeschichte und Theologie. Das von Amelie Bendheim und Jennifer Pavlik herausgegebene Werk, an dem 13 Autorinnen und Autoren mitgewirkt haben, ist gedruckt und als E-Book erhältlich.
Warum das späte Mittelalter einen fruchtbaren Rahmen für die Erforschung der Verbreitung von Halbwahrheiten bietet und was man daraus für die Gegenwart lernen kann, erklären zwei Beiträger des Buches von der Ruhr-Universität Bochum im gemeinsamen Interview: Prof. Dr. Klaus Oschema ist Professor für Geschichte des Mittelalters unter besonderer Berücksichtigung des späten Mittelalters und Prof. Dr. Bernd Bastert ist Professor für Deutsche Literatur des Spätmittelalters.
Als Spätmittelalter bezeichnet man für Europa die Zeit von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis um etwa 1500, die sich nicht zuletzt durch die Entwicklung der Städte auszeichnet. In ihnen wohnten, je nach Gebiet, bis zu 20 oder 25 Prozent der Bevölkerung. Der überwiegende Teil der Menschen lebte von der Landwirtschaft.
Herr Prof. Bastert, wer konnte im Spätmittelalter lesen und schreiben?
Bernd Bastert: Man kann davon ausgehen, dass eine nicht ganz unerhebliche Schicht in den Städten zumindest rudimentäre Fähigkeiten hatte. Das war aber insgesamt betrachtet immer noch die Minderheit. Über einen langen Zeitraum boten Klosterschulen die einzige Möglichkeit, es zu lernen. Später gab es dann auch Kathedralschulen, aus denen ab etwa 1200 die ersten Universitäten hervorgingen.
Wie wurden schriftliche Informationen im Spätmittelalter verbreitet?
Bastert: In den Städten gab es Flugblätter, häufig von Leuten, die etwas bekannt machen wollten. Das konnten Stadtverwaltungen, Klöster oder die neuen religiösen Bewegungen sein, die es auch vor Luther schon gegeben hat.
Klaus Oschema: Bei Flugblättern denken wir meist an Zettel, die einem am Bahnhof in die Hand gedrückt werden. In der Stadt des Spätmittelalters wurden solche Blätter nur in geringer Stückzahl an prominenten Stellen ausgehängt. Bei obrigkeitlichen Bekanntmachungen verkündete meist auch ein Ausrufer den Inhalt. So dienten Aushänge, die schon vor der Einführung des Drucks existierten, der Informationsweitergabe als „Kommunikation unter Anwesenden“, wie Rudolf Schlögl formulierte.
Wurde mit solchen Aushängen auch Politik betrieben?
Oschema: Im frühen 15. Jahrhundert gab es einen Streit zwischen der Kirche St. Denis bei Paris und dem Domkapitel von Paris, um die Echtheit von Reliquien des heiligen Dionysius. Die Mönche von St. Denis hängten in ihrer Kirche Plakate auf, mit denen sie unterstrichen, dass sie die echten Reliquien besäßen. Das war eine massive Polemik gegen die Mitglieder des Domkapitels, die ihrerseits behaupteten, sie hätten das Haupt des Dionysius. Durch das Herstellen von Öffentlichkeit betrieb man also auch mithilfe solcher Aushänge Politik.
Was der Pfarrer gesagt hat, wird für viele erstmal gegolten haben. Letztendlich stand ja die göttliche Instanz dahinter.
Welche Möglichkeiten hatte die Bevölkerung, den Wahrheitsgehalt einer Aussage zu prüfen?
Bastert: Ich denke, dass die Kirche da eine entscheidende Rolle gespielt hat. Was der Pfarrer gesagt hat, wird für viele erstmal gegolten haben. Auch wenn es ihnen nicht passte. Letztendlich stand ja die göttliche Instanz dahinter. Ansonsten kommen wir schon in einen Graubereich zwischen gesundem Menschenverstand und Gerüchten. Damit umzugehen ist zu jeder Zeit schwierig gewesen, und das war es sicherlich auch im Mittelalter.
Oschema: Viel bedeutender als das, was gelesen wurde, dürfte in dieser Zeit zudem die mündliche Weitergabe von Erzählungen und Gerüchten gewesen sein.
Gab es Versuche, die Verbreitung von Falschnachrichten zu unterbinden?
Oschema: Ganz grundsätzlich gab es früh Bestrebungen, die Ausbreitung von Information überhaupt zu regulieren, denn letztlich wurde ständig kommuniziert. Bastian Walter hat das zur Kommunikation in Kriegszeiten sehr schön herausgearbeitet. Die Stadt Straßburg war an den Burgunderkriegen der 1470er-Jahre beteiligt, sie kooperierte mit den Eidgenossen. Dabei kursierten Informationen auf unterschiedlichen Ebenen. Es gab offizielle Boten, die dafür sorgten, dass die Stadtoberen von der Aktivität des Heeres im Felde unterrichtet wurden. Aber diese Boten nahmen auch Beischreiben von Soldaten mit und brachten sie zu deren Familien.
Das versuchte der städtische Rat zu unterbinden und sagte mehr oder weniger: „Hier kursieren ständig Gerüchte, weil ihr diese Beibriefe schickt. Das muss ein Ende haben. Der offizielle Bote darf sie nicht mehr mitnehmen.“ Diesen Versuch, Informationen herrschaftlich einzuhegen, wie es uns aus dem 20. Jahrhundert gut vertraut ist, sehen wir also bereits im späten Mittelalter – von städtischen Obrigkeiten, aber auch von Fürsten.
Wir können den Blick schärfen für den Kern der Problemkonstellation.
Was hat Sie bewogen, bei dem Buch mitzuschreiben?
Bastert: Die Anfrage dafür kam schon 2019 in der Trump-Phase. Ich fand einfach, dass das ein sehr interessantes Thema ist, auch für die mittelalterliche Gesellschaft, wenn auch ganz anders als im 21. Jahrhundert.
Oschema: Ein Vorteil, Falschnachrichten für das Mittelalter oder die frühe Neuzeit zu untersuchen, besteht darin, dass wir uns relativ nüchtern darüber unterhalten und die Phänomene sortieren können. In dem Moment, in dem Sie diese Diskussion über Meldungen von QAnon oder andere Fake News-Meldungen der Gegenwart führen, schlagen sofort die Emotionen hoch und Parteien verlassen den Raum.
Ein Beitrag der Vormoderne kann also sein, dass man in gewisser Weise in einer Laborsituation fragen kann, wie die Verbreitung von Falschnachrichten damals funktioniert hat und auf welche Aspekte wir entsprechend in unserer Gegenwart besonders achten müssen. Das heißt nicht, dass wir aus dem Mittelalter ein Heilmittel für die Probleme der Moderne entwickeln können, aber wir können den Blick schärfen für den Kern der Problemkonstellation.
Problematisch war Trumps Schmähung der Medien insgesamt als Fake News und damit als eine Institution der Unwahrheit.
Wo genau liegt dieser Kern?
Oschema: Interessant wird es für mich dort, wo es um Systeme der Wahrheitsbehauptung und Wahrheitspräsentation geht. Darin sehe ich auch die zentrale Verunsicherung, die aus Trumps Polemiken resultierte. Problematisch war weniger die Bezeichnung einer einzelnen Nachricht als Falschmeldung, sondern vielmehr die Schmähung der Medien insgesamt als Fake News und damit als eine Institution der Unwahrheit.
Wenn man diesen Zuschnitt als Basis nimmt, kann man Konkurrenz in der Behauptung von Wahrheit im sozialen Gefüge beobachten, auch im späten Mittelalter. Hier können wir fragen: Welche Techniken werden eingesetzt? Was erschüttert das Vertrauen in die Wahrheit der anderen? Dann sehen wir unter anderem, dass wir in Argumentationen von der Sachfrage weg und hin zu ad personam-Argumenten kommen.
Auch die Inanspruchnahme institutioneller Autoritäten spielt eine Rolle. Sie haben vorhin so freundlich zur Begrüßung gesagt: „Herr Professor Oschema“. Ich selbst bestehe selten auf diesem Titel – aber in dem Moment, in dem ich mich Leuten so vorstelle, hat meine Stimme vielleicht ein anderes Gewicht, als wenn ich sagen würde „der Bürger Klaus Oschema“.
Gerüchte und Falschnachrichten lassen sich besser verbreiten, wenn sie auf bereits bekannten Situationen und Gegenständen beruhen.
Wie funktionieren Fake News?
Bastert: Um Fake News zu produzieren oder als solche zu erkennen, ist das Konzept der Halbwahrheiten, wie die Baseler Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess das nennt, ein sehr gelungener Begriff und eine gute Möglichkeit. Man muss sich klarmachen, dass das nicht vollkommen abstruse Meldungen sein dürfen. Die erkennt jeder sofort als Lüge.
Gerüchte und Falschnachrichten lassen sich besser verbreiten, wenn sie auf bereits bekannten Situationen und Gegenständen beruhen, als wenn man irgendetwas völlig Neues in die Welt setzt. Denn das stößt erstmal auf Skepsis.
Gibt es Parallelen zwischen dem Spätmittelalter und der heutigen Zeit?
Oschema: Ich denke, dass bestimmte Strategien, Mechanismen und Strukturen, die mit dem Konzept der Halbwahrheiten angesprochen sind, sinnvolle Vergleichsmöglichkeiten bieten, und dass damit unser Blick auf die eigene Gegenwart geschärft wird. Dadurch dürfen wir uns aber nicht dazu hinreißen lassen zu sagen, es bliebe alles gleich. Nein, vieles verändert sich natürlich ganz massiv, von den Medien bis zum gesellschaftlichen Rahmen.
Herr Bastert, was ist die Kernaussage Ihres Buchbeitrages mit Lina Herz?
Bastert: Aus Sicht der Literaturwissenschaft haben wir versucht herauszustellen, wie Informationen gebaut und ans Publikum gebracht wurden: in welchen Strukturen, welchen Beglaubigungsstrategien, teilweise auch mithilfe von Bildern.
Dabei hat man die erwartete Reaktion der Rezipienten von vornherein mit bedacht: Widmungsvorreden und andere Beglaubigungsstrategien sollten dafür sorgen, dass etwas geglaubt wurde. In dem von uns untersuchten Fall waren das spektakuläre Dinge wie Kannibalismus.
Oschema: Was Bernd Bastert und Lina Herz auch mit Verweis auf die Halbwahrheiten sehr schön gezeigt haben, ist die Bedeutung des Erwartungshorizonts der Rezipienten. Das ist uns aus dem Phänomen der modernen Echokammer nur zu vertraut. Hier finden wir auch in der Vormoderne Überprüfungsfälle.
Denn wenn Marco Polo etwa von Einhörnern erzählte und erklärte, sie seien gar nicht so schön, wie man sie sich vorstelle, dann stieß das bei seinen Lesern und Leserinnen vermutlich auf offene Ohren. Tatsächlich hatte er aber wohl über Sumatra-Nashörner berichtet, die er auf seiner Rückreise aus China nach Venedig gesehen haben mag.
Die überkommenen Vorstellungen von Kannibalen wurden ebenso verifiziert wie falsifiziert.
Was passierte mit der verbreiteten Erwartung, irgendwo am Rande der Welt Kannibalen oder Monstren zu finden?
Bastert: Auf Kannibalen, die man als monströse Gestalten bereits aus der Antike kannte und die Kolumbus bei seiner Fahrt nach „Indien“ erwartet hatte, stieß man schließlich tatsächlich. Kolumbus zunächst nur in Erzählungen der Indigenen, aus denen er, da er deren Sprache nicht verstand, vermutlich nur genau das heraushörte, was er zur Bestätigung seiner Theorie hören wollte.
In Südamerika gab es jedoch tatsächlich kannibalische Stämme, die der Deutsche Hans Staden aus eigener Anschauung so genau beschrieben hat wie niemand sonst. Sein sensationelles Buch über die „Menschenfresser“ war ein großer Erfolg.
Dabei ist es keineswegs nur eine moralische Verurteilung der kannibalischen Riten, das auch, sondern zugleich ein exakter, man könnte sagen ethnographischer Bericht, der bis heute wissenschaftlichen Wert besitzt. Die überkommenen Vorstellungen von Kannibalen wurden auf diese Weise ebenso verifiziert wie falsifiziert.
Oschema: Andererseits schrieb Johannes von Marignoli, der zur Mitte des 14. Jahrhunderts hin durch Indien und China reiste, nach seiner Rückkehr in den Westen eine offizielle Chronik Böhmens für seinen König, Karl IV. Darin erklärt er letztlich: „Ich bin in Indien gewesen, um die Wunder dieser Welt zu sehen und ich habe die Inder gefragt, wo diese monströsen Völker seien. Aber sie konnten mir nichts zeigen. Stattdessen haben sie mich gefragt: Du kommst doch weit aus dem Westen. Wie sieht es denn dort aus mit den Monstren?“
Diese fast schon aufklärerische, Empirie-basierte Position – zu sagen, „ich habe im Westen und im Osten nachgesehen, habe aber keine monströsen Völker gefunden“ – setzte sich in seiner Zeit letztendlich nicht durch. Das hatte auch etwas mit den Erwartungshaltungen zu tun.
Damit sind wir aber vielleicht auch gar nicht so fern von manch politisch relevanten Überzeugungen, die heute durch unsere mediale Welt wabern und uns bei nüchternem Blick doch eher überraschend erscheinen – wenn sie uns nicht gerade die Haare zu Berge stehen lassen.
Der Erfolg Philipp des Schönen von Frankreich lag auch daran, dass er für die Vorwürfe gegen die Templer Gerüchte aufgreifen konnte, die bereits kursierten.
Wurden Medien genutzt, um eigen Interessen durchzusetzen?
Bastert: Als Cortés Mexico eroberte, schickte er Berichte darüber an den König. Dazu war er verpflichtet. Allerdings war das ganze Unternehmen ein wenig dubios, denn er hatte sich das Kommando erschlichen und stand unter umso größerem Druck. Dabei war Cortés so schlau, diese Berichte dann auch noch drucken zu lassen, was dem König natürlich nicht passte, weil der dubiose Eroberer dadurch auch noch die Öffentlichkeit hinter sich brachte.
Cortés spielte also mit den Medien und stellte sich selbst im glänzendsten Licht dar. Das zeigt, wie man damals die neuen Medien, in diesem Fall den Buchdruck, nutzen konnte, um seine Interessen durchzudrücken.
Oschema: Dass Mechanismen, die auf die Erwartungshaltung der Rezipienten abzielten, durchaus in Kontexten genutzt wurden, die wir aus moderner Sicht als politisch beschreiben würden, habe ich in meinem Buchbeitrag versucht klarzumachen. Philipp dem Schönen von Frankreich gelang es, den Templerorden, eine der wichtigsten reichsübergreifenden Institutionen im Europa der Zeit um 1300, zu zerschlagen, indem er die Mitglieder anklagte, quasi unaussprechliche Verbrechen begangen zu haben: Sie seien Gotteslästerer, Götzenverehrer und hätten nicht zuletzt Sodomie praktiziert, worunter hier homosexuelle Handlungen zu verstehen sind.
Sein Erfolg lag einerseits an der pragmatischen Kommunikationsfähigkeit seiner Herrschaft, zugleich aber auch daran, dass er für die Vorwürfe gegen die Templer auch Gerüchte und Meinungen aufgreifen konnte, die bereits kursierten. Diese formierte er in einem neuen Gesamtpaket zu einem Verdachts- und Anklagekomplex, der nicht nur literarisch wirkte, sondern auch praktisch politisch: Der letzte Großmeister des Ordens, Jacques de Molay, wurde im Mai 1314 in Paris als Häretiker auf dem Scheiterhaufen hingerichtet – und viele seiner Ordensbrüder hatten vorher schon ein ähnliches Schicksal erlitten.
Bernd Bastert ist seit 2004 an der Ruhr-Universität Professor für Germanistische Mediävistik, insbesondere deutsche Literatur des späten Mittelalters. Gastprofessuren führten ihn an das Utrecht Center for Medieval Studies in den Niederlanden und an die Universität Fribourg in der Schweiz.
Er hat den interdiziplinären Masterstudiengang MaRS (Medieval and Renaissance Studies) mit aufgebaut und ist seit 2009 Vorsitzender des MaRS Lenkungsausschusses. Von 2015-2017 war er Dekan der Fakultät für Philologie, seit 2016 ist er gewähltes Mitglied im DFG Fachkollegium für Literaturwissenschaft.
Klaus Oschema übernimmt zum 1. September 2023 die Direktion des Deutschen Historischen Instituts (DHI) in Paris. Dafür wurde er als Professor der Ruhr-Universität zunächst für fünf Jahre beurlaubt. Das DHI Paris ist eines der in der Max Weber Stiftung zusammengefassten derzeit elf deutschen geisteswissenschaftlichen Auslandsinstitute. Weitere Informationen erhalten Sie hier.
Amelie Bendheim, Jennifer Pavlik (Herausgeber): Fake News in Literatur und Medien, Fakten und Fiktionen im interdisziplinären Diskurs, Bielefeld: transcript Verlag, 2022, 238 Seiten, ISBN: 9783839460191, DOI: 10.1515/9783839460191
27. Februar 2023
09.16 Uhr