Standpunkt Den Zusammenhalt in Europa und der Welt wahren
Wie es um die internationale Kooperation angesichts Russlands Ukraine-Krieg und nationaler Alleingänge in Europa steht, beleuchtet Politikwissenschaftler Prof. Dr. Stefan Schirm.
Russlands Krieg brachte nicht nur unermessliches Leid über die Ukraine, sondern unterstreicht auch weltpolitische Spaltungen. Einerseits schlossen sich die Staaten des politischen Westens (Europa, Nordamerika und Ostasien) noch enger zusammen. Sie verhängten Sanktionen gegen Russland und helfen der Ukraine finanziell und militärisch. Präsident Biden zeigte eine zuvor abwesende internationale Führung. Die deutsche Regierung sah sich genötigt, die Zeitenwende anzuerkennen und ebenfalls Waffen zu liefern. Es festigte sich das Bündnis von Ländern, die sich territorialer Integrität, Marktwirtschaft und Demokratie verbunden sehen.
Russland ist aber kein isolierter Staat. Die meisten Länder Afrikas, Südasiens, Lateinamerikas und des Nahen Ostens folgen nicht den Sanktionen gegen Moskau und der Unterstützung der Ukraine durch den Westen. Stattdessen enthielten sich viele Staaten des politischen Südens bei der Verurteilung Russlands in den Vereinten Nationen und pflegen weiter wirtschaftliche, politische und militärische Beziehungen zu Moskau. Von besonderer Bedeutung ist die Politik der Schwellenländer der BRICS-Gruppe, zu denen Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika gehören, mit China als wichtigstem Mitglied. Diese aufstrebenden Mächte und viele Entwicklungsländer positionieren sich in unterschiedlichem Ausmaß gegen westliche Ansprüche und favorisieren eine alternative, multipolare Weltordnung, in der sie größere Teilhabe besitzen.
Die Pluralität gesellschaftlicher Interessen und Ideen lässt sowohl Konflikt als auch Kooperation erwarten.
Allerdings sind die Interessen und Werte zwischen den Ländern des Südens und auch innerhalb dieser Länder vielfältig. Manche Lobbygruppen favorisieren gute wirtschaftliche Beziehungen zum Westen und viele Menschen teilen seine Werte. Daher gehört der politische Süden neben eigenen Organisationen weiterhin westlich dominierten Institutionen wie der Welthandelsorganisation und dem Internationalen Währungsfonds an. Während Russlands Krieg also die Konturen alternativer Weltordnungen schärft, ist eine Doppelmitgliedschaft verbreitet. So lässt die Pluralität gesellschaftlicher Interessen und Ideen sowohl Konflikt als auch Kooperation erwarten.
Für uns in Europa ist die europäische Integration ein besonderes Anliegen. Der Brexit und scheinbar zunehmende Differenzen zwischen den EU-Mitgliedern vermitteln oft den Eindruck der Uneinigkeit. Diese sollte aber nicht mit Spaltung verwechselt werden, sondern ist Ausdruck der Pluralität materieller Interessen und ideeller Werte, die sich innerhalb der EU-Länder und zwischen den Staaten manifestiert. Eine Gleichschaltung von Haltungen wäre nur in einem autoritären System möglich. Daher ist es eine wichtige Aufgabe für nationale Regierungen, EU-Kommission und EU-Parlament, diese Vielfalt gesellschaftlicher Strömungen in ihrer Politik zu berücksichtigen. Geschieht dies nicht, entsteht eine Repräsentationslücke, die zur Abkehr vernachlässigter Wähler*innen von europäischer Politik führt.
Nationale Alleingänge verhindern Kompromisse und zeigen mangelnden Respekt.
Für die Stärkung politischen Zusammenhalts in Europa sind daher zwei Punkte zentral. Erstens muss demokratische Politik die Pluralität gesellschaftlicher Ideen und Interessen berücksichtigen sowie die Bevölkerungsmehrheit respektieren und die Bevorzugung von Lobbygruppen vermeiden. Zweitens gilt es, europäische Kompromisse zu suchen und keine nationalen Maximalpositionen durchzusetzen. Auch deutsche Regierungen haben dies teilweise versäumt. Beispielsweise waren der Ausstieg aus der Kernkraft in der Energiewende sowie die extreme Exportorientierung trotz Kritik vieler EU-Partner nicht in europäische Kompromisse eingebettet. Kontroverse Verhandlungen gehören zum Alltag europäischer Politik. Nationale Alleingänge aber verhindern Kompromisse und zeigen mangelnden Respekt vor den Interessen und Überzeugungen in den Partnerländern.