Die Zustimmung zur Vielfalt in Deutschland ist ungebrochen, so das Fazit einer Studie.
© Roberto Schirdewahn

Sozialwissenschaft Vielfalt willkommen

Die rechtspopulistischen Töne in Deutschland sind in den vergangenen Jahren laut geworden. Hat sich die Einstellung im Land zur Vielfalt verändert?

Die Bilder aus dem Jahr 2015, als viele hunderttausende Menschen nach Deutschland flüchteten, sind eindrücklich in Erinnerung geblieben. Überfüllte Erstaufnahmeeinrichtungen, sinkende Schlauchboote im Mittelmeer, verzweifelte Menschen. Zugleich zeigte sich in Deutschland eine neue Willkommenskultur, zahlreiche Ehrenamtliche standen zur Hilfe bereit und Angela Merkels Satz „Wir schaffen das“ hallte noch lange nach. Es folgten aber auch Diskussionen um Obergrenzen, Angriffe auf Asylunterkünfte und den Umgang mit Rechtspopulismus. Dass Deutschland ein Zu- und Einwanderungsland ist, steht heute außer Frage. Wie seine Bewohnerinnen und Bewohner zu dieser Vielfalt der Gesellschaft stehen, ist aus dem Bauch heraus nicht so leicht zu beantworten.

Sören Petermann beschäftigt sich schon viele Jahre mit diesem Thema. Er ist Professor für Soziologie mit einem Fokus auf Stadt und Region an der Ruhr-Universität Bochum und erforscht Einstellungen zur Diversität in Deutschland. Aktuell ist er am Projekt „Diversity Assent in Urban Germany“ beteiligt, das federführend am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen angesiedelt ist. Dort kooperiert Petermann mit dem Team um Projektleiterin Prof. Dr. Karen Schönwälder.

Wie sich die Einstellung zu Diversität verändert

Die Forschenden wollen herausfinden, wie verbreitet positive oder negative Einstellungen zur Vielfalt in der Bevölkerung größerer Städte sind. „Wir haben 2010 schon eine ähnliche Studie gemacht, die gezeigt hat, dass eine Mehrheit der deutschen Gesellschaft positiv zur Diversität steht“, sagt Sören Petermann. „Nach den massenhaften Fluchtbewegungen 2015 haben wir beschlossen, ein zweites Projekt ins Leben zu rufen. Wir wollten nicht nur wissen, ob sich die Einstellungen verändert haben, sondern auch, wie sich die Gruppe der Vielfaltsbefürworterinnen und -befürworter zusammensetzt, also welche sozialstrukturellen Merkmale, politischen Überzeugungen und tiefgehenden Werte sie aufweisen, und was genau sie motiviert.“

Sören Petermann ist Professor für Soziologie mit einem Fokus auf Stadt und Region an der Ruhr-Universität Bochum.
© Roberto Schirdewahn

Fakt ist: Heute leben mehr Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in Deutschland als im Jahr 2010, und auch die Herkunftsländer und kulturellen Lebenserfahrungen sind vielfältiger geworden. Aber hat das auch etwas an der Einstellung der Menschen zur Diversität geändert? Um diese Frage zu beantworten, interviewten die Forschenden in den Jahren 2019 und 2020 mithilfe einer Agentur rund 3.000 Personen aus 20 verschiedenen Städten in einer Telefonbefragung. Die Teilnehmenden waren so ausgewählt worden, dass die Stichprobe repräsentativ für deutsche Städte mit mehr als 50.000 Einwohnerinnen und Einwohnern war.

Grundsätzlich positive Haltung in der Bevölkerung

Die Einstellung zur Diversität erhoben die Forschenden auf zwei Ebenen. Auf einer abstrakten Ebene fragten sie beispielsweise, ob Diversität eine Bereicherung für das Land oder die Stadt sei. „Wenn man hier zustimmt oder ablehnt, hat das erst einmal keine Konsequenzen für einen selbst“, erklärt Petermann. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bohrten daher etwas tiefer und fragten auch, ob Menschen bestimmte politische Maßnahmen befürworten würden: Sollten mehr Personen mit Migrationsgeschichte im Parlament vertreten sein? Würden sie es befürworten, dass die Kulturförderung auch Minderheiten einschließt? Wären sie damit einverstanden, wenn eine Moschee in ihrer Nachbarschaft gebaut würde?

Eine Moschee in der eigenen Nachbarschaft? Das ist eines der Themen in der Befragung.
© Roberto Schirdewahn

Zwei Drittel der Befragten hatten grundsätzlich eine positive Haltung zur Diversität, stimmten also den Aussagen auf der abstrakten Ebene zu. Menschen mit höherem Einkommen und höherem Bildungsabschluss zeigten dabei eine größere Zustimmung. Das Alter spielte keine große Rolle, wobei es eine Tendenz gab, dass jüngere Menschen Diversität offener gegenüberstehen als ältere.

Rund die Hälfte der Befragten ging noch weiter und befürwortete auch die vorgeschlagenen politischen Maßnahmen wie mehr Teilhabe für Menschen mit Migrationshintergrund an politischen Ämtern. Anders als auf der abstrakten Ebene hing die Zustimmung hier nicht mit Einkommen, Alter oder Bildung zusammen. Entscheidend waren die politischen Einstellungen sowie Kontakte und Beziehungen zwischen Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte. Oftmals reicht ein einziger überbrückender Kontakt aus, damit Menschen Vielfalt gegenüber deutlich positiver eingestellt sind.

Politische Gesinnung hat einen Einfluss

„Wir haben in unserer Befragung außerdem die klassische Sonntagsfrage gestellt, um herauszufinden, welcher politischen Partei die Befragten am nächsten standen“, erklärt Petermann. Anhängerinnen und Anhänger der Grünen und der Linken befürworteten politische Interventionen zur Stärkung der Vielfaltsgesellschaft am meisten, während SPD-Anhänger eher eine durchschnittliche Position vertraten. Wer mit CDU oder FDP sympathisierte, war deutlich reservierter. „Die überwiegende Mehrheit der AfD- Anhängerinnen und -Anhänger sah gar keine Anhaltspunkte, warum Deutschland eine diverse Gesellschaft sein sollte“, so der Bochumer Forscher.

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Bislang weitgehend unerforscht ist, wie Grundüberzeugungen Einstellungen zur Diversität motivieren. Auch diese Frage wollen die Forschenden im aktuellen Projekt angehen. Die Analyse der Daten läuft allerdings noch. „Es sind ganz unterschiedliche Gründe denkbar“, erklärt Sören Petermann. „Zum Beispiel kann man dem Pro-Vielfaltslager angehören, weil man die Prinzipien der Solidarität und Gleichheit wertschätzt“. Eine ganz andere Motivation wäre der Fachkräftemangel in Deutschland, der nur durch Zuzug aus dem Ausland behoben werden kann. Homogenitätsbestrebungen und Traditionsbewusstsein hingegen könnten eher dazu führen, Vielfalt abzulehnen. „Die genauen Zusammenhänge müssen allerdings noch erforscht werden“, bekräftigt Petermann.

Wie Vielfalt im Wohnviertel wahrgenommen wird

Die Studie richtete den Fokus auch auf die Diversität im eigenen Wohnquartier. Anders als bei großen Befragungen üblich, stellten die Forschenden offene Fragen zu diesem Thema. „Üblicherweise werden Wir/Die-Kategorien vorgegeben, es wird also nach Menschen mit und ohne Migrationshintergrund gefragt“, schildert Petermann. „Wir haben offen gefragt, was Verschiedenheit oder Ähnlichkeit eigentlich ausmacht.“ Zunächst wurden die Teilnehmenden gefragt, ob ihnen die Menschen in ihrem Wohnviertel ähnlich seien oder ob sie sich unterscheiden. Im zweiten Schritt sollten sie die möglichen Ähnlichkeiten oder Unterschiede konkret benennen.

Die Forschenden untersuchen unter anderem, wie Menschen Diversität im eigenen Wohnquartier wahrnehmen. © Roberto Schirdewahn

Eine Mehrheit nahm Unterschiede unter den Bewohnerinnen und Bewohnern des jeweiligen Wohnviertels wahr. „Das am häufigsten genannte Unterscheidungsmerkmal waren Migrationsbezüge, wobei Begriffe wie Nationalitäten, Herkunft, Kulturen und Ausländer am häufigsten genannt wurden“, gibt Petermann einen Einblick in die Ergebnisse. „Dabei fielen in der Regel keine konkreten Bezeichnungen einzelner Herkunftsländer oder -regionen, sondern Ausdrücke wie ‚multikulti‘ oder ‚Es gibt Personen aus anderen Ländern‘.“ Aber auch andere Unterscheidungskriterien kamen vor, etwa das Einkommen, der Bildungshintergrund oder der Lebensstil. Nur zwei Prozent der Befragten bezogen die Unterschiede auf die Religion.

Zustimmung zur Vielfalt ist ungebrochen

Interessant war für die Forschenden zu sehen, wie sich die Wahrnehmungen von Migration zwischen 2010 und 2019/2020 verändert haben. Der Begriff Ausländer wurde auf die Frage nach Unterschieden im eigenen Viertel 2010 noch doppelt so häufig genannt wie in der zweiten Befragung. Außerdem kamen Aussagen zu einzelnen Nationalitäten 2010 häufiger vor. „Bei der neuen Befragung haben wir gelegentlich Aussagen gehört wie: ‚Hier wohnen überwiegend Europäer‘ – und das wurde als etwas Verbindendes wahrgenommen“, beschreibt Sören Petermann ein Beispiel. 2019/2020 traten die Begriffe Herkunft, Migrationshintergrund, Sprache und Religion tendenziell häufiger auf als in der ersten Befragung. Flucht wurde zwar selten genannt, kam 2010 aber praktisch gar nicht vor.

Man hätte vielleicht ein anderes Ergebnis erwarten können, wenn man an rechtspopulistische Strömungen denkt.


Sören Petermann

Die Zustimmung zur Vielfalt in Deutschland ist jedenfalls ungebrochen. „Man hätte vielleicht ein anderes Ergebnis erwarten können, wenn man an rechtspopulistische Strömungen denkt“, resümiert Petermann. „Das sind zwar laute Stimmen, aber sie sind in der Minderheit. Eine breite Bevölkerungsschicht in Deutschland befürwortet Diversität.“ Daran hat auch die Flüchtlingssituation 2015 nichts geändert.

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Veröffentlicht

Mittwoch
10. Mai 2023
09:15 Uhr

Dieser Artikel ist am 1. Juni 2023 in Rubin 1/2023 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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