Interview Bedrohung von rechts
Rechte Gesinnungen gab es in der deutschen Bevölkerung schon immer. Zuletzt wurden diese Stimmen lauter. Dabei hat die extreme Rechte in den vergangenen Jahren viele Kämpfe verloren.
Reichskriegsflaggen bei Demonstrationen, rechte Parolen von Politikerinnen und Politikern, Anschläge auf Unterkünfte von Geflüchteten und Gewalt gegen Menschen, denen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird. Wird der Zusammenhalt der Gesellschaft in Deutschland von rechts bedroht? Antworten auf diese Frage hat Dr. Jan Schedler, Sozialwissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum. Er hat zu rechter Mobilisierung und Rechtsterrorismus geforscht und berät dazu Akteure aus Politik und Verwaltung.
Herr Dr. Schedler, wie groß ist die Gefahr durch rechte Gewalt?
Dass rechte Gewalt ein Problem ist, zeigt ein Blick in die Statistik der politisch motivierten Kriminalität in Deutschland. Für 2021 finden sich dort unter den aufgrund von gruppenbezogenen Vorurteilen begangenen Straftaten 8.400 rechts motivierte und 248 links motivierte Taten, wovon 776 beziehungsweise 30 Gewalttaten sind. Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer.
Gibt es auch belastbare Zahlen zum Rechtsterrorismus?
Auf EU-Ebene durchaus. Für 2021 sind zwei verhinderte Anschläge in Schweden und Österreich sowie eine fehlgeschlagene Attacke in Belgien zu verzeichnen, zudem gab es 64 Festnahmen. In Deutschland werden nur wenige rechtsterroristische Taten als solche behandelt. Auf dem Höhepunkt der Gewaltwelle 2016 gab es ein Tötungsdelikt, 18 versuchte Tötungen, 113 Brandstiftungen und zehn Sprengstoffanschläge. Von den Brandstiftungen richteten sich 65 gegen Wohnunterkünfte. Dennoch wurden 2012 bis 2019 nur zwölf Strafverfahren wegen rechtsterroristischer Aktivitäten eingeleitet.
Rechte Straßengewalt und Rechtsterrorismus
Ist man in Deutschland zögerlicher mit dem Begriff Terrorismus als in anderen Ländern?
Was den Rechtsterrorismus betrifft: ja. Insbesondere bei einzelnen Taten ohne eine benennbare Organisation und ohne explizites Tatbekenntnis. Hintergrund ist unter anderem, dass eine terroristische Vereinigung drei Mitglieder voraussetzt. Doch auch der relativ neue Straftatbestand der schweren staatsgefährdenden Straftat, nach dem auch Einzelpersonen verurteilt werden können, kommt bei rechter Gewalt kaum zum Einsatz, obwohl seit 2006 das Merkmal der Einschüchterung der Bevölkerung auch dann erfüllt ist, wenn die Tat sich nicht explizit gegen die politische Ordnung, aber gegen nennenswerte Teile der Gesamtbevölkerung richtet.
In den USA ist das anders, dort wird der Terror von rechts schon lange als größte Bedrohung der inneren Sicherheit angesehen. Inzwischen hat sich auch in Deutschland die Einschätzung verändert, wie etwa die Razzia gegen sogenannte Reichsbürger 2022 gezeigt hat.
Woran liegt das?
Am Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke 2019. Der damalige Innenminister Seehofer sprach von einer Zäsur in der deutschen Geschichte. Nach dem Lübcke-Mord, nach den Anschlägen in Halle und Hanau ist die Bedrohung durch rechte Gewalt in den Fokus gerückt. Dabei hatte es zuvor schon die lange Mordserie des NSU gegeben, nur waren die Opfer keine prominenten Politiker*innen gewesen.
NSU
Manchmal heißt es, die Behörden seien auf dem rechten Auge blind.
Da machen wir es uns zu einfach. Aber etwa der Fall des NSU zeigt, dass Hinweise auf rechte Täter nicht verfolgt wurden, man entsprechende operative Fallanalysen ignorierte und sich stattdessen auf die Verdächtigung der Angehörigen konzentrierte. Zum anderen hatte man zahlreiche Informationen über die Szene, ihr terroristisches Gewaltpotenzial und ihre Organisation im Untergrund, ohne eine terroristische Bedrohung zu sehen.
Was man im Nachhinein als Fehleinschätzung betrachten muss.
Ja, man hat lange zu sehr durch die RAF-Brille geschaut. Wenn man das tut, erscheinen andere Pläne vielleicht dilettantisch. Ursächlich dafür war aber auch das blinde Vertrauen der Behörden in die zahlreichen Informanten, von denen viele federführend an der Radikalisierung der Bewegung beteiligt waren.
RAF
Hinzu kommt, dass seit 9/11 die Gefahr des islamistischen Terrorismus den Blick auf den Rechtsterrorismus verstellt hat.
Heute ist oft von einem Rechtsruck in Deutschland die Rede. Haben wir tatsächlich einen Einschnitt erlebt?
Mit der AfD sitzt eine in weiten Teilen extrem rechte Partei im Bundestag und in fast allen Landesparlamenten, die politische Landschaft hat sich dadurch verändert. In anderen Ländern Europas sind solche Parteien schon lange erfolgreich. Das gilt nicht nur für Frankreich, Österreich oder Mittelosteuropa, sondern auch für Skandinavien, das uns oft als liberal gilt. In Dänemark gibt es seit vielen Jahren eine erfolgreiche rechtspopulistische Partei. Und in der Entwicklung der norwegischen Fortschrittspartei gibt es viele Parallelen zur AfD. In der Forschung sprechen wir von der vierten Welle extrem rechter und rechtspopulistischer Parteien. Deren Positionen sind jetzt teils im politischen Mainstream angekommen. Sie verbinden die Gegenüberstellung von „wahrem Volk“ und „korrupten Eliten“ und ein Demokratieverständnis, in dem Politik unmittelbarer Ausdruck eines allgemeinen Volkswillens sein soll, mit dem Glauben an eine streng geordnete Law-and-Order-Gesellschaft und dem Ziel eines ethnisch/kulturell homogenen Nationalstaats. Dennoch können sich aktuellen Umfragen zufolge in Ostdeutschland zwischen 26 und 28 Prozent der Wahlbevölkerung vorstellen, die AfD zu wählen.
Schaut man nur auf die Einstellungen der Menschen, ist kein Rechtsruck zu sehen.
Woher kommen denn auf einmal die vielen Wählerinnen und Wähler der AfD?
Das Potenzial war da, es fehlte eine Partei, die dieses abrufen kann. Repräsentative Studien zeigen, dass in Deutschland nur wenige ein extrem rechtes Weltbild haben, aber jede*r Siebte ist offen für extrem rechte Ideologien. Der Aussage, Deutschland sei „durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“ stimmen elf Prozent zu, zusätzlich wählen 21 Prozent „teils/teils“ als Antwort. Fast jeder Zehnte möchte Muslim*innen die Zuwanderung verbieten. Und fast ein Viertel der Befragten ist der Ansicht, im nationalen Interesse könnten „nicht allen die gleichen Rechte gewährt werden“. Die Verbreitung dieser Einstellungen ist nicht neu. Nicht wenige AfD-Wähler*innen haben früher die Union oder auch die SPD oder im Osten die Linke gewählt. Sie haben sich politisch in der Mitte verortet. Und wer sich in der Mitte verortet, wählt nicht die NPD. Gleichzeitig konnte die AfD viele Nicht-Wähler*innen aktivieren. Aber schaut man nur auf die Einstellungen der Menschen, ist kein Rechtsruck zu sehen.
Haben die Rechten es heute leichter als früher, weil sich die Grenzen des Sagbaren verschoben haben?
Wenn der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland behauptet, die Leute wollten jemanden wie Fußballnationalspieler Jérôme Boateng nicht als Nachbarn haben und er den Nationalsozialismus als „nur ein Vogelschiss“ in 1.000 Jahren deutscher Geschichte abtut, dann heißt es, so etwas hätte man früher nie gesagt. Aber vergleichbares hörte man früher etwa vom rechten Rand von CDU/CSU oder von Martin Walser. Jetzt finden diese Positionen, aber eben auch andere, von NPD und neurechten Netzwerken geprägte Thesen durch die AfD in stärkerem Maße als zuvor Eingang in die Parlamente und den öffentlichen Diskurs.
Extrem rechte Politik in Deutschland ist deshalb keine reine Erfolgsgeschichte – im Gegenteil.
Doch wenn AfD-Politiker*innen anknüpfend an Thilo Sarrazin von „Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte[n] Messermännern und sonstigen Taugenichtse[n]“ (Alice Weidel, MdB) sprechen, wenn sie erklären, die Identität eines Volkes sei eine „Mischung aus Herkunft, Kultur und aus rechtlichen Rahmenbedingungen“, und betonen, „Der Pass alleine macht noch keinen Deutschen“ (Marc Jongen, MdB) oder von der Notwendigkeit eines „groß angelegten Remigrationsprojekts“ reden, bei dem man nicht um eine „Politik der wohltemperierten Grausamkeit“ herumkommen werde (Björn Höcke, MdL), dann rufen Sie eben auch Widerstand hervor. Die Grenzen des ohne Protest Sagbaren haben sich meines Erachtens eher verengt. Sozialer Fortschritt erzeugt nun mal Konflikte. Die Kritik an Rassismus und das selbstbewusste Einfordern von Gleichberechtigung durch ehemals marginalisierte Gruppen verweist auf erfolgreiche Integrations- und Emanzipationsprozesse. Extrem rechte Politik in Deutschland ist deshalb keine reine Erfolgsgeschichte – im Gegenteil.
Wie meinen Sie das?
Im Staatsangehörigkeitsrecht wurde das Abstammungsprinzip um das Geburtsortprinzip ergänzt. Doppelte Staatsbürgerschaften sind möglich, es gibt mehr Rechte für gleichgeschlechtliche Paare, wir haben viele Geflüchtete aufgenommen. Ja, ein reines Geburtsortprinzip wäre zeitgemäß, es gibt kein Wahlrecht für Zugewanderte aus Nicht-EU-Ländern, Rassismus ist etwa auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt ein großes Problem. Aber auf lange Sicht hat die extreme Rechte wichtige gesellschafts- und geschichtspolitische Kämpfe verloren. Es ist nicht verwunderlich, dass es Widerstand gegen Liberalisierung gibt. Solche Prozesse werden nie von allen mitgetragen. Das sind nicht nur Neonazis, sondern auch Leute, die sich politisch rechts von der Mitte verorten, geschlechtergerechte Sprache unnötig finden und kritisieren, wie sich die Union heute zu Quotenregelungen positioniert. Ich würde daher nicht von einem Rechtsruck in der breiten Bevölkerung sprechen. Es formiert sich vielmehr ein neues rechtes Projekt als Reaktion auf einen gesellschaftlichen Liberalisierungsprozess. Wir sollten aber dabei nicht vergessen, dass auch dieses wiederum Widerspruch hervorruft. Man denke nur an die Auseinandersetzungen um rechte Verlage auf der Frankfurter Buchmesse. Und 2015/16 stand der Welle rechter Gewalt eine breite Unterstützung Geflüchteter gegenüber.
Was würden Sie uns als Gesellschaft abschließend als Botschaft mit auf den Weg geben?
Wir sollten nicht nur über rechte Gewalt oder die AfD, sondern viel mehr über (Alltags-)Rassismus reden. Wir schauen immer auf das Spektakuläre, aber Rassismus ist ein viel verbreiteteres Problem mit großen Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt.