Sammlung gekauft 11.000 Reclam-Hefte aus über 150 Jahren
Viele haben die Reclam-Heftchen aus der Schulzeit noch zuhause. Georg Ewald hat sie über Jahrzehnte gesammelt und auch bekritzelte, markierte und angekokelte Exemplare aufgehoben. Die Ruhr-Universität hat sie erworben.
Andere Antiquare hätten nur die Nase gerümpft. Aber Georg Ewald wusste sie zu schätzen: Reclams Universalbibliothek, die ehemals rosafarbenen, heute gelben Heftchen, die seit 1867 für kleines Geld große Literatur für alle boten. Er kaufte, verkaufte und sammelte sie, auch dann, wenn sie in langweiligen Schulstunden bekritzelt worden waren, von Schauspieler*innen für die Bühne markiert oder im Krieg angekokelt.
„1985 habe ich angefangen, Reclam zu sammeln“, erinnert er sich, „ich wollte eine Verlagsgeschichte schreiben – zuerst Rowohlt, aber da gab es zu wenig.“ Er schrieb den Reclam-Verlag an und stieß auf offene Ohren: Man hatte kein Archiv und auch kein vollständiges Verzeichnis und war gern bereit, Exemplare zu schicken. Eine zweiwöchentlich im Börsenblatt des deutschen Buchhandels erscheinende Suchanzeige – viel mehr brauchte es nicht, um die Sammlung wachsen zu lassen. 1987 veröffentlichte Ewald seine erste Publikation über Reclam in einer Antiquariatszeitung, 1989 startete er in seinem eigenen Café einen Reclam-Abend während der Buchmesse.
Schränke vom Sperrmüll gerettet
Im Laufe der vielen Jahre sind rund 11.000 Bände zusammengekommen. Erstauflagen, spätere, veränderte Auflagen, tragbare Feldbibliotheken, metallene Sammelboxen für die Zeitschrift „Reclams Universum“, Schränke, eigens für das Format der Heftchen angefertigt und in der Leipziger Niederlassung des Verlags nach der deutschen Wiedervereinigung fast auf dem Sperrmüll gelandet.
Das alles hat Ewald, der vor einiger Zeit sein Domizil mit großem Lager gegen eine kleinere Etagenwohnung tauschen musste, der Ruhr-Universität verkauft. Im Sommer 2020 kamen zahlreiche Umzugskisten an und gingen in die Obhut von Prof. Dr. Nicola Kaminski und Prof. Dr. Sebastian Susteck über, die das Projekt federführend betreuen. Jana Schräder-Grau kümmerte sich ums Auspacken, Sortieren, Katalogisieren. „So zweieinhalb Jahre hat das gedauert“, sagt sie. Wobei es gar nicht so einfach ist, etwa zu ermitteln, wie alt ein Reclam-Heft tatsächlich ist. „Das Druckjahr oder die Auflage sind meistens nicht angegeben“, erklärt sie. „Wenn der Preis noch in Silbergroschen angegeben ist, weiß man, dass es sich um eine ganz frühe Ausgabe handeln muss. Wenn im Innern des Umschlags schon Werbung für viel spätere Bände der Reihe zu finden ist, kann es sich nicht um eine Erstauflage handeln.“ Ein Indiz ist auch die sogenannte Rosenranke auf der ersten Umschlagseite, die zuerst in Abwärts-, später dann in Aufwärtsrichtung verlief.
Mehr als wir erwartet hatten.
Jana Schräder-Grau
Die Ordnung Georg Ewalds behielt Jana Schräder-Grau bei. Manche Bändchen in den Schränken sind in Transparentpapiertütchen gehüllt. „Das sind alte Lohntüten, in die habe ich zu meiner Zeit als Postkartenverkäufer die Karten gesteckt, weil mir die anderen Tütchen nicht gefallen haben“, berichtet Georg Ewald. Zu seinem Besuch in der Bibliothek des Germanistischen Instituts der Ruhr-Universität Ende August hat er weitere Kisten Reclam mitgebracht, die er im Keller seines Sohnes untergestellt hatte. „Mehr als wir erwartet hatten“, blickt sich Jana Schräder-Grau um.
Bochum hat jetzt eine der bedeutendsten historischen Reclam-Sammlungen überhaupt. Wer damit arbeiten möchte, muss sich allerdings an die Betreuenden wenden, denn die beiden Räume, in denen der Schatz lagert, sind verschlossen. „Das Material ist so empfindlich, dass wir es leider nicht öffentlich zugänglich machen können“, erklärt Nicola Kaminski. Immerhin sind die Einbände lichtecht, schon seit dem 19. Jahrhundert. Dennoch sind die Bochumer Forschenden froh, dass die Räume zur Ostseite liegen, sodass keine direkte Sonne hereinscheint.
Für die Forschung ist die Sammlung vor allem auch deshalb von großem Wert, weil sie einen Einblick ermöglicht, was unter welchen Umständen früher gelesen wurde. „Man hat die seltene Gelegenheit, zum Beispiel zu sehen, wie Schüler mit den Heften umgegangen sind, was sie unterstrichen oder kommentiert haben“, erklärt Sebastian Susteck. „Text wird ja in der Literaturwissenschaft oft als völlig abstrakt betrachtet“, so Nicola Kaminski, „das ist er aber nicht. Wir wollen auch seine Physis mit einbeziehen: Welche Werbeanzeigen stehen davor und danach? Wurde er an Soldaten im Feld geschickt oder auf der Bühne genutzt? Reclam hat nach der Regelung von 1867, dass Werke 30 Jahre nach dem Tod des Autors frei verfügbar wurden, den Versuch gemacht, Klassiker für alle zugänglich zu machen. Was ist aber überhaupt ein Klassiker und wer entscheidet das?“, nennt sie Fragen, die sie umtreiben.