Mit einer selbst entwickelten Apparatur können die Bochumer Forschenden Stoffeigenschaften bei extrem tiefen Temperaturen messen. In der eigentlichen Messzelle, die hier zu sehen ist, herrschen während der Messung Drücke von bis zu 120 Bar.
© Roberto Schirdewahn

Im Gespräch Forschung nahe dem Nullpunkt

Wer sich mit dem Thema Wasserstofftransport befassen will, muss das Thermometer weit herunterdrehen. Roland Span weiß, welche Herausforderungen das mit sich bringt – und wagt es trotzdem.

Das Heizungsgesetz hat im Sommer 2023 eine neue Debatte entfacht, was eigentlich die Energieträger der Zukunft sein sollen. Wasserstoff geistert schon lange als vielversprechender Kandidat herum. Aber um eine energieeffiziente Wasserstoffwirtschaft etablieren zu können, fehlt entscheidendes Grundlagenwissen – beispielsweise dafür, wie Wasserstoff effizienter als heute verflüssigt und transportiert werden kann. An dieser Frage forscht Prof. Dr. Roland Span mit seinem Team. Dazu müssen die Thermometer in den Thermodynamik-Laboren der Ruhr-Universität nah an den absoluten Nullpunkt heruntergedreht werden. Ein risikobehaftetes Unterfangen.

Herr Professor Span, um Wasserstoff transportieren zu können, muss er verflüssigt werden. Das klingt eigentlich einfach. Wo ist das Problem?
Das Problem ist, dass wir auf extrem niedrige Temperaturen herunterkühlen müssen: 20 Kelvin, das sind etwa minus 253 Grad Celsius. Zum Vergleich: Flüssiges Erdgas, auch als LNG bekannt, wird heute schon großtechnisch verflüssigt transportiert. Dafür braucht man im Tank etwa 115 Kelvin. Je tiefer die Temperatur, also je näher wir dem absoluten Nullpunkt kommen, desto aufwendiger werden die erforderlichen Techniken.

Absoluter Nullpunkt

Der absolute Nullpunkt definiert die tiefste Temperatur, die theoretisch erreicht werden kann. Sie liegt bei 0 Kelvin, das entspricht minus 273,15 Grad Celsius.

LNG

Als LNG bezeichnet man flüssiges Erdgas. Die Abkürzung steht für Liquefied Natural Gas. LNG hat eine viel höhere Dichte als gasförmiges Erdgas. In flüssiger Form lassen sich also größere Mengen auf kleinerem Raum, beispielsweise in Schiffstanks, transportieren.

Mit welcher Technik bekommt man Wasserstoff denn in seine flüssige Form?
Wasserstoff oder auch Erdgas werden in großtechnischen Anlagen typischerweise mit einem kalten Gemisch vorgekühlt. Im Fall von Erdgas sind das zum Beispiel Gemische aus Stickstoff, Methan und Propan. Bei Wasserstoff braucht man deutlich tiefere Temperaturen, dafür eignen sich Gemische aus Helium und Neon. Zwischen den Strömen des zu kühlenden Gases und dem Kühlmittel findet eine Wärmeübertragung statt, das Kühlmittel entzieht dem zu kühlenden Gas also Wärme. Damit das effizient klappt, muss der Temperaturunterschied zwischen den Strömen extrem klein sein. Je näher am absoluten Nullpunkt wir uns befinden, desto störender werden die Temperaturunterschiede.

Roland Span leitet an der Ruhr-Universität Bochum den Lehrstuhl für Thermodynamik.
© Roberto Schirdewahn

Wenn es heute heißt, der Energieaufwand für die Verflüssigung von Wasserstoff sei so groß, bezieht sich das auf eine Anlagentechnik, die nie wirklich energetisch optimiert worden ist.

Kostet die Kühlung selbst nicht wahnsinnig viel Energie? Lohnt sich das überhaupt?
Die Verflüssigungsanlagen, die wir heute haben, stammen meist aus den 1960er- oder 1970er-Jahren. Sie sind vielfach für die Produktion von Raketentreibstoff gedacht gewesen. Wenn es heute heißt, der Energieaufwand für die Verflüssigung von Wasserstoff sei so groß, bezieht sich das auf eine Anlagentechnik, die nie wirklich energetisch optimiert worden ist. Wir können viel besser werden. Dann lohnt es sich auch, Wasserstoff flüssig zu transportieren.

Wie viel besser geht es?
Man hofft, den Energieverbrauch für die Wasserstoffverflüssigung in etwa halbieren zu können. Damit  wäre man weit günstiger als alle alternativen Verfahren. Im Moment sehen die ersten Verträge mit Kanada vor, dass Wasserstoff in Form von Ammoniak, also als NH3, transportiert wird. Wenn wir aber letztlich Wasserstoff zum Beispiel in Brennstoffzellen nutzen wollen, müssen wir in Deutschland aus dem importierten Ammoniak wieder Wasserstoff machen. Diese Umwandlungskette, von Wasserstoff zu Ammoniak und zurück zu Wasserstoff, ist grundsätzlich mit großen Verlusten behaftet. Theoretisch ist der energetische Aufwand für die Verflüssigung von Wasserstoff deutlich geringer. Genau da setzt unsere Stoffdatenforschung ein: Wir wollen die Grundlagen dafür schaffen, dass sich dieser theoretische Vorteil auch praktisch realisieren lässt.

Ammoniak

Das Ammoniak-Molekül besteht aus einem Atom Stickstoff (N) und drei Atomen Wasserstoff (H) – NH3. Ammoniak kann aus Wasserstoff und dem in der Luft enthaltenen Stickstoff hergestellt werden und kann auch wieder in diese Bestandteile zerlegt werden. Der Prozess ist aber energetisch aufwendig. Der Vorteil von Ammoniak ist, dass er leichter als Wasserstoff als Flüssigkeit in Tanks transportiert werden kann. Bei Umgebungstemperatur benötigt man Drücke über etwa 8 bar, bei Umgebungsdruck Temperaturen unter etwa minus 35 Grad Celsius.

Wofür braucht man Stoffdaten?
Stoffeigenschaften wie Dichten, Wärmekapazitäten oder Siedetemperaturen sind Größen, die man braucht, wenn man eine technische Anlage auslegen will. Sie verraten einem, wie die Anlage genau beschaffen sein muss, um ihren Zweck möglichst effizient erfüllen zu können. Je genauer ich die entsprechenden Stoffeigenschaften kenne, desto geringer werden die Unsicherheiten beim Auslegen der Anlage.

Wasserstoff wird schon lange als Energieträger gehandelt. Gibt es noch so viel Unbekanntes?
Tatsächlich sind die Stoffeigenschaften von Wasserstoff ungefähr zehnmal unsicherer als die von anderen Gasen, die wir großtechnisch verflüssigen, zum Beispiel Methan als Hauptkomponente von Erdgasen oder Stickstoff. Wir haben zwar viele Daten für Wasserstoff, aber sie stammen überwiegend aus den 1960er- und 1970er-Jahren und sind mit den damaligen Techniken gemessen worden. Heute gibt es modernere Verfahren, zum Beispiel die Magnetschwebewaagen-Technik, die wir hier in Bochum verwenden. Solche Verfahren sind niemals auf Wasserstoff bei tiefen Temperaturen angewendet worden. Es gibt auch weltweit keine Anlagen, die das könnten.

Es ist ein Hochrisiko-Projekt. Aber wir haben hier in Bochum die besten Voraussetzungen.

Also gibt es die Anlage, die man für die Messungen braucht, gar nicht?
Nein, es gibt weltweit keine geeigneten Messanlagen, die bei den wasserstofftypischen tiefen Temperaturen messen können. Moderne Verfahren zur Dichte- und Schallgeschwindigkeitsmessung sind bislang nur bis rund 100 Kelvin angewendet worden. Bei Wasserstoff reden wir über fünfmal tiefere Temperaturen. Sie zu realisieren ist Ziel des ERC Grants, den wir hier am Lehrstuhl bearbeiten. Wir wollen die Messtechnik aufbauen, mit der wir die modernen Messverfahren für Dichte und Schallgeschwindigkeit auf Temperaturen übertragen können, wie sie für Wasserstoff üblich sind. 20 Kelvin sind dazu technisch mindestens notwendig; aus wissenschaftlichen Gründen würden wir gerne bis hinunter zu 14 Kelvin messen können. Ob das klappt, ist keinesfalls sicher. Es ist ein Hochrisiko-Projekt. Aber wir haben hier in Bochum die besten Voraussetzungen.

Forschungsförderung durch den ERC

Der Europäische Forschungsrat, auf Englisch European Research Council, kurz ERC, fördert exzellente Grundlagenforschung, die risikobehaftet ist, aber große Erkenntnisgewinne verspricht. 2022 hat Roland Span einen Grant aus diesem Förderprogramm für die Wasserstoff-Grundlagenforschung erhalten.

Weil Sie bereits Erfahrungen aus LNG-Messungen haben?
Genau, unsere Anlage, mit der wir LNG vermessen haben, ist in dieser Genauigkeitsklasse die Anlage, die die tiefsten Temperaturen erreicht: 100 Kelvin. Die anderen Anlagen, die es weltweit gibt, messen typischerweise nur bis 230 oder 240 Kelvin. Wasserstoff mit 20 Kelvin ist aber noch mal eine ganz andere Liga. Hätten wir nicht die Erfahrungen aus den LNG-Messungen, hätte ich mich nicht getraut, dieses Projekt in Angriff zu nehmen. Der Schritt runter auf 100 Kelvin war ein großer. Die Erfahrungen werden uns helfen.

Was würde es bedeuten, wenn das Unterfangen scheitert?
Dass wir bis auf Weiteres Schwierigkeiten haben werden, Anlagen so zu optimieren, dass der Wasserstofftransport deutlich energieeffizienter wird. Wir müssten dann nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ vorgehen, die ganze Entwicklung könnte sich verzögern. Oder man würde letztendlich auf weniger energieeffizienten Lösungen sitzenbleiben.

Ich bin überzeugt davon, dass Wasserstoff kommt. Aber vielleicht anders, als manche Leute es erwarten.

Wie überzeugt sind Sie, dass sich Wasserstoff als Energieträger durchsetzen wird?
Ich bin überzeugt davon, dass Wasserstoff kommt. Aber vielleicht anders, als manche Leute es erwarten. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass wir in großem Stil mit Wasserstoff statt mit Erdgas heizen werden. Alle, die sich heute noch Erdgasheizungen kaufen und glauben, dass sie später Wasserstoff verbrennen können, könnten ein böses Erwachen erleben. Im Vergleich mit Wasserstoff wird eine Wärmepumpe unschlagbar günstig sein. Wenn ich ein Haus mit einer modernen Wärmepumpe beheize, brauche ich dafür ganz grob sechsmal weniger grünen Strom, als wenn ich aus dem Strom Wasserstoff herstelle und den dann in einer Gasheizung verbrenne.

Wo könnte Wasserstoff stattdessen zum Einsatz kommen?
Es gibt ein paar Anwendungen, etwa für Brennstoffzellen oder als Treibstoff mit hoher Energiedichte, für die langfristig der Import von Wasserstoff die energetisch günstigste Lösung sein wird. Viel Wasserstoff brauchen wir außerdem für die chemische Industrie, zum Beispiel für die Herstellung von Dünger. Allerdings benötigt man für die Düngerproduktion im Grunde Ammoniak, also NH3, nicht Wasserstoff, also H2. Ammoniak kann man besser dort herstellen, wo der Wasserstoff produziert wird, und dann den Ammoniak transportieren – anstatt Wasserstoff zu verflüssigen, zu transportieren und am Zielort daraus Ammoniak herzustellen. Es ist also keine Frage von entweder oder. Verschiedene Techniken haben verschiedene Vorteile. Ich erwarte, dass wir sie nebeneinander sehen werden.

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Veröffentlicht

Montag
23. Oktober 2023
11:21 Uhr

Dieser Artikel ist am 1. Dezember 2023 in Rubin 2/2023 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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