Sozialwissenschaft Verfolgungserfahrung sichtbar machen
Ein Forschungsprojekt an der Ruhr-Universität will gewaltsame Ereignisse in der Region Dersim, heute Tunceli, im Osten der Türkei dokumentieren und aufarbeiten.
Tunceli liegt in den Bergen Anatoliens im Osten der Türkei. In den Jahren 1937 und 1938 ging das türkische Militär hier – damals hieß die Region Dersim – mit Gewalt gegen die überwiegend alevitische lokale Bevölkerung vor. Aufstandsbekämpfung, Vertreibung, Massaker? „Es ist kaum möglich, einen Satz über diese Ereignisse, ihre Nachgeschichte und die Erinnerung daran zu schreiben, ohne in das Dickicht unterschiedlicher Deutungen und Identitäten einzutauchen. Jede einzelne davon ist hochgradig politisiert“, so schreibt der Projektleiter PD Dr. Christian Gudehus auf der Projektwebsite. Gemeinsam mit dem Politologen Dr. Ismail Küpeli und einem Team von indigenen Übersetzern und anderen Forschenden will der Sozialwissenschaftler im Forschungsprojekt „Dersim 1937/38“ Licht in das Geflecht an Interpretationen bringen. Gefördert wird das Oral-History-Projekt von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien Claudia Roth.
100 Interviews erschließen
Das Forschungsprojekt baut dabei auf Vorarbeiten des Dersim Kultur und Geschichtszentrums e.V. auf, das beginnend mit dem Jahr 2008 in acht Ländern über 400 Videointerviews mit Überlebenden und Zeitzeug*innen der Ereignisse von 1937 und 1938 geführt hat – den Großteil davon in der lokalen Sprache Kırmancki/Zazaki. 100 davon sollen im Projekt „Dersim 1937/38“ transkribiert, erstmals ins Deutsche übersetzt und ab Herbst 2024 nach und nach auf der Plattform Oral-History.Digital veröffentlicht werden.
Oral-History. Digital
„Ziel des Projekts ist es, die Erfahrungen, Erinnerungen und Erzählungen von Gewalt, Migration, Fremdsein und Heimat zu bewahren und diese der Forschung und Öffentlichkeit zugänglich zu machen“, heißt es auf der Projektwebseite. Die gefilmten Interviews sollen weiterführende Forschung etwa in den Bereichen der Gewalt- und Erinnerungsforschung, der Erziehungswissenschaft, aber auch der Linguistik und Ethnologie ermöglichen. Außerdem soll das Material Eingang in Bildungsmaßnahmen oder kulturelle Aktivitäten – Ausstellungen oder Filme – finden.
Seltene Sprachen
Bevor all dies jedoch geschehen kann, muss das Material erst erschlossen werden. Und das ist komplex und aufwändig, da die für dieses Projekt ausgewählten Interviews überwiegend auf Kırmancki/Zazaki, also der Muttersprache der Verfolgtengruppe, geführt worden sind. Die Sprache wurde von etwa drei Millionen Menschen gesprochen, die mehrheitlich in der Türkei leben. Alphabete dafür existieren erst seit einigen Jahrzehnten. Die Interviews zu erschließen ist auch deshalb sehr anspruchsvoll, weil die Gesprächspartner*innen sehr alte Menschen sind, die zum Teil stark ausgeprägte lokale Dialekte sprechen. Entsprechend schwierig ist bereits die bloße Transkription und schließlich auch die Übersetzung ins Türkische und ins Deutsche.
Dersimis in Deutschland
In Deutschland organisieren sich die Nachfahren der Dersimis in alevitischen Gemeinden, in Verbänden, Vereinen und Kultureinrichtungen, um die Kultur der Heimat, insbesondere Sprache und Musik, zu pflegen, aber auch um für politische Sichtbarkeit und Anerkennung als Gruppe einzutreten. Die Aufarbeitung der Verfolgungserfahrung im Projekt „Dersim 1937/38“ wird zu ihrer Sichtbarkeit beitragen.