Reportage Von Stromstößen, Angstschweiß und einem Laufband-Fiasko

Entgegen der landläufigen Meinung kann sich Stress positiv auf das Lernen auswirken. Entscheidend ist, zu welchem Zeitpunkt wir ihn erleben.

Es zuckt in meiner Wade – ein Stromstoß. Ich habe es kommen sehen und mich schon vorher gefürchtet. Weg kann ich nicht, meine Wade und meine Hand sind verkabelt, Kinn und Stirn liegen in einer Kopfstütze, meine Augen können nur auf einen Monitor schauen. Worauf habe ich mich da nur eingelassen?

Als die Themen für dieses Rubinheft unter den Redaktionsmitgliedern verteilt wurden, hatte ich spontan „Hier!“ gerufen, als es darum ging, wer über das Forschungsprojekt von Dr. Valerie Jentsch und ihrer Doktorandin Lianne Wolsink berichten möchte. Und hatte mich dann auch noch als Versuchskaninchen angeboten, um hautnah mitzuerleben, was die Versuchspersonen während des Experiments erwartet.

Stressforscherin Valerie Jentsch und Doktorandin Lianne Wolsink erforschen gemeinsam, wie sich das Extinktionslernen verbessern lässt. © Roberto Schirdewahn

Valerie Jentsch ist Stressforscherin am Lehrstuhl für Kognitionspsychologie der Ruhr-Universität Bochum und Projektleiterin im SFB 1280. In ihrem aktuellen Projekt untersucht sie, wie Stress sich auf das Extinktionslernen auswirkt. Was man bereits weiß: Stress beeinträchtigt den Gedächtnisabruf. Doch Stress wirkt sich nicht nur auf negative Weise auf das Gedächtnis aus, wie man denken könnte.

Was Jentsch und andere Forschende herausgefunden haben: „Es kommt stark darauf an, zu welchem Zeitpunkt wir den Stress erleben. Wenn wir zum Beispiel vor einer Prüfung Stress haben, schadet uns das in der Prüfung eher, manch einer bekommt einen regelrechten Blackout. Aber wenn wir den Stress kurz nach der initialen Lernerfahrung erfahren, dann führt das dazu, dass die Gedächtnisspur mit dem zuvor Erlernten sogar gestärkt wird, man das neue Wissen also besser abrufen kann“, erklärt Jentsch.

In ihrem aktuellen Forschungsprojekt geht die Wissenschaftlerin gemeinsam mit ihrer Doktorandin der Frage nach, ob intensiver Sport – bei dem das Stresshormon Cortisol ausgeschüttet wird – den gleichen Effekt auf das Extinktionslernen hat wie Stress. „Das wäre gerade im Hinblick auf eine spätere klinische Anwendung in der Verhaltenstherapie sehr hilfreich“, sagt Jentsch. Denn statt Patientinnen und Patienten, denen es eh schon nicht gut geht, einem zusätzlich psychisch belastenden Stress auszusetzen, könnte man die gleichen physiologischen Effekte durch eine viel positiver aufgenommene Sporteinheit hervorrufen.

Intensives Laufen löst im Körper Stressreaktionen aus. Redakteurin Raffaela Römer macht den Selbsttest. © Roberto Schirdewahn

Auch ich werde gleich Sport machen müssen, soviel hat Valerie Jentsch mir vorab verraten. Ok, Sport ist ja prinzipiell gesund und ich mache eh zu wenig davon. Später werde ich sehen: Genau das wird mir zum Verhängnis werden. Als ich vorhin zusammen mit unserem Fotografen das schlicht eingerichtete Labor betreten hatte, war mir nicht ganz bewusst gewesen, was mich erwarten würde. Valerie hatte mich gebeten, am vorderen Tisch Platz zu nehmen, und mir das Prozedere erklärt, während sie an meiner linken Wade und an meiner linken Hand Elektroden angebracht hat.

Über die Elektrode an der Hand misst Lianne Wolsink jetzt meine Hautleitfähigkeit. Im Klartext: Sie sieht schwarz auf weiß, wie mir der Angstschweiß ausbricht. Dafür sorgen die Elektroden an meinem Bein nämlich: Sie verabreichen mir kurze Stromstöße. Meine Aufgabe: Während mein Kopf mittels Kinn- und Stirnstütze fixiert ist, schaue ich geradeaus auf den Monitor. Meine Pupillen werden dabei gefilmt, Lianne Wolsink kann an ihrem Monitor sehen, wie sie sich im Laufe des Experiments weiten oder verengen. Auch das ist eine Reaktion des Körpers auf Furcht.

Auf meinem Monitor wird mir ein Bild von einem Arbeitszimmer gezeigt, in dem eine Schreibtischlampe steht. Diese ist der neutrale Reiz. Mal leuchtet die Lampe gelb auf, mal blau. Das Fatale: Auf gelb folgt ab und zu ein kurzer, harmloser Stromstoß (wir haben zuvor meine Schmerzgrenze ausgelotet – hier soll schließlich niemand mit einem gegrillten Bein das Labor verlassen).

Furchtkonditionierung: Leuchtet die Lampe auf, folgt kurz darauf ein Stromstoß. © Roberto Schirdewahn

Was ich hier erlebe, ist eine klassische Furchtkonditionierung. Und die funktioniert erstaunlich gut. Schon nach kurzer Zeit zieht sich in mir alles zusammen, wenn die Lampe gelb aufleuchtet. Ob auf das Licht wieder der fiese Stromstoß folgt? Dass meine Hand schwitzig wird, merke ich selbst, dafür muss ich gar nicht auf die Kurve an Lianne Wolsinks Monitor schauen.

Wenn es am schönsten ist, soll man ja gehen. Und ich denke, um einen ersten Eindruck zu bekommen, reicht mir diese Erfahrung jetzt. Valerie Jentsch hat ein Einsehen und wir beschließen, zum nächsten Teil überzugehen. Eins vorweg: Ich durchlaufe nicht das komplette Experiment, wie es die Versuchspersonen tun, sondern erlebe nur zwei Ausschnitte. Die Probanden müssen nämlich an drei Tagen ins Labor kommen.

Ablauf des Experiments

Tag 1: Furchtkonditionierung: Ein neutraler Reiz (gelbe Lampe) wird mit elektrischer Stimulation verknüpft, während auf einen anderen neutralen Reiz (zum Beispiel blaue Lampe) niemals eine elektrische Stimulation folgt.
Tag 2: Extinktionslernen: Beide Reize (gelbe und blaue Lampe) werden präsentiert, aber beide ohne elektrische Stimulation. Neu gelernt wird: Die gelbe Lampe (die nach Tag eins kein neutraler, sondern ein furchtauslösender Reiz war) ist nicht mehr gefährlich.
Tag 3: Gedächtnis-Abruf-Test. Wie reagieren die Probanden nun auf die verschiedenen Lampenfarben? Auswertungen zeigen: Probanden, die am zweiten Tag vor dem Extinktionslernen Stress ausgesetzt waren, rufen eher die zweite Lernspur – also die Extinktionsspur (gelbe Lampe = kein Schmerz) – ab als die erste (gelbe Lampe = Schmerz).

Der zweite Teil führt mich in einen anderen Raum. Dort steht ein Laufband. Bevor ich darauf meine Sporteinheit absolviere, gebe ich noch eine Speichelprobe ab. Diese dient dazu, den Spiegel des Stresshormons Cortisol zu messen. „Sport kann chronischen Stress abbauen. Sport selbst ist auch ein Stressor, nämlich ein physischer. Wenn ich Sport in einer gewissen Intensität mache, steigen meine Stresshormone an. Mein sympathisches Nervensystem wird aktiviert, mein Herz schlägt schneller, meine Bronchien erweitern sich, und Cortisol wird ausgeschüttet“, erklärt Valerie Jentsch.

Das Hormon kann die Blut-Hirn-Schranke direkt passieren und an Rezeptoren im Gehirn andocken, wodurch sich die Erregbarkeit der Gehirnzellen verändert. Unter anderem in Hirnregionen, die besonders wichtig sind für unser Gedächtnis. So kommt es, dass Stress einen Einfluss auf Lernen und Gedächtnis hat.

Ab auf das Laufband

Los geht es auf dem Laufband. Ohne Eitelkeit kann ich wohl behaupten: Vom äußeren Erscheinungsbild mache ich auf die meisten Menschen einen eher sportlichen Eindruck. Doch wie sehr sie sich täuschen! Ich habe ungefähr null Kondition. Joggen mochte ich noch nie. Valerie Jentsch steigert schnell das Tempo. 15 Minuten soll ich hier zügig laufen. Im Ernst? Nach fünf Minuten bin ich am Rande meiner Kräfte. Nach sieben Minuten breche ich ab. Meiner Atmung nach zu urteilen habe ich 42 Kilometer hinter mir. Ok, sprechen wir nicht darüber.

„Bei den echten Versuchspersonen testen wir niemanden, der so gar keinen Sport macht“, erklärt Valerie Jentsch grinsend. Ich würde sagen, das ist eine kluge Entscheidung. Nachdem ich wieder zu Atem gekommen bin, gehen wir in das Büro der Wissenschaftlerin und sie erzählt mir Genaueres über die Zusammenhänge zwischen Stress, Sport und dem Extinktionsgedächtnis.

Was die Forscherin besonders interessiert ist, wie man das Extinktionslernen stärken und zudem kontextunabhängiger machen kann. „Das Extinktionslernen ist extrem kontextabhängig. Das bedeutet, ein Patient, der während einer Verhaltenstherapie in einer Praxis zum Beispiel gelernt hat, keine Angst mehr vor Hunden zu haben, kann außerhalb der Praxisräume, also in einem anderen Kontext, sehr wohl noch die alte Angst spüren. Wir wollen herausfinden, was wir tun können, damit das Extinktionslernen länger anhält, und wie wir es vom Kontext der Lernsituation lösen können“, erklärt Valerie Jentsch.

Hilfe für Patientinnen und Patienten mit Angsstörungen

Die Ergebnisse ihrer Forschung zeigen: „Wenn wir die Versuchspersonen NACH dem Extinktionslernen stressen, dann führt das dazu, dass sie das Extinktionsgedächtnis besser abrufen können, aber auch nur in dem Kontext, in dem sie es gelernt haben. Wenn wir die Versuchspersonen aber VOR dem Extinktionslernen stressen, dann führt das zu einem besseren Extinktionsabruf, und das ist unabhängig vom Kontext. Das ist das, was wir haben wollen.“ Es kommt also entscheidend darauf an, zu welchem Zeitpunkt die Versuchspersonen, oder später die Patientinnen und Patienten, den Stress empfinden.

Die Auswertungen aus dem aktuellen Projekt zeigen zudem, dass Sport die gleichen Effekte hervorrufen kann wie psychischer Stress. Das ist wichtig, wenn man später in der Klinik die gewonnenen Erkenntnisse umsetzen will, denn Stress ist natürlich mit negativen Emotionen verbunden, Sport hingegen eher mit positiven.

Wann es so weit sein wird, ist allerdings ungewiss. „Man muss klar sagen, dass wir hier Grundlagenforschung betreiben“, sagt Valerie Jentsch. „Allerdings ist der Schritt in die Anwendung nicht unendlich groß.“ Und gerade dieses Wissen, dass ihre Arbeit auch Betroffenen, die unter Angststörungen leiden, zugutekommen könnte, motiviert die Wissenschaftlerin jeden Tag aufs Neue für ihre Forschung.

Veröffentlicht

Montag
30. September 2024
12:12 Uhr

Dieser Artikel wird am 7. Januar 2025 in Rubin Extinktionslernen 2025 erscheinen.

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