Prof. Dr. Onur Güntürkün ist Sprecher des Sonderforschungsbereichs Extinktionslernen an der Ruhr-Universität Bochum. © Roberto Schirdewahn

Standpunkt Der Wert der Neugier

Grundlagenforschung: Das Streben nach Erkenntnis, ohne eine Anwendung vor Augen zu haben, beschäftigt viele in der akademischen Welt. Ist das gut so? Ein Kommentar von Onur Güntürkün.

Viele Forscherinnen und Forscher kennen diese Situation: Sie werden gefragt, woran sie arbeiten, erzählen von ihrem Projekt und hören dann die Frage: Wofür ist das gut? Ich selbst kenne diese Situationen auch. Meine Arbeitsgruppe interessiert sich dafür, wie die Gehirne von Vögeln und Menschen funktionieren und wie Verhalten entsteht. Wie viele andere Grundlagenforscherinnen und -forscher können wir die Frage nach dem Sinn unserer Arbeit nicht beantworten, indem wir sagen, dass wir eine Krankheit heilen, den Klimawandel stoppen oder ein neues Produkt für die Industrie entwickeln wollen. Wir forschen zum Zweck des Erkenntnisgewinns. Lohnt sich das? Ja, das tut es.

Vor Jahrzehnten gab es eine kleine Anzahl von Menschen, die sich dafür interessierten, wie man eine einzelsträngige Ribonukleinsäure (RNA) herstellt, mit der sich der genetische Code für ein Protein übertragen lässt. Wenn diese Wissenschaftler spöttisch lächelnd gefragt wurden, wozu das gut sein solle, erzählten sie von vagen Möglichkeiten, dass sich damit Krankheiten heilen lassen könnten. Eigentlich wussten sie das nicht so genau. Aber sie trauten sich nicht zu sagen, dass sie einfach nur neugierig waren, ob sich RNA künstlich herstellen lässt. So neugierig, dass eine von ihnen es hinnahm, ihre Heimat verlassen zu müssen, um in einem anderen Land zu forschen. Dort wurde sie später von ihrer Universität wegen der Nutzlosigkeit ihrer Forschung degradiert, fand Asyl in einem anderen Labor und forschte unter schwierigsten Umständen und ohne jede finanzielle Unterstützung weiter. 2023 bekam Katalin Karikó zusammen mit ihrem Kollegen Drew Weissman den Nobelpreis für ihre Grundlagenforschung zur mRNA-Technologie. Diese machte den Impfstoff gegen COVID-19 möglich und rettete somit Millionen von Menschenleben. Die meisten dieser Geretteten wissen nicht, dass sie ihr Leben Katalin Karikós Neugier und somit der Grundlagenforschung verdanken. 

Ohne Grundlagenforschung gäbe es die moderne Welt nicht.

Grundlagenforschung schafft die Basis für spätere Anwendungen. Ohne sie gäbe es die moderne Welt nicht, in der in Deutschland die Menschen durchschnittlich 80 Jahre alt werden, beim Joggen Musik hören und abends zu Hause mit einem einfachen Tastendruck das Licht einschalten. Apropos Licht: Als Michael Faraday am ersten Elektromotor tüftelte, soll ihn der britische Premierminister gefragt haben, wer denn bitte schön sowas brauche. Bestimmt hat er dabei spöttisch gelächelt. Faraday soll gesagt haben: „Eines Tages werden Sie Steuergelder dafür bekommen“. 

Selbst wenn Grundlagenwissenschaftler definitiv keinerlei Anwendungsmöglichkeit ihrer Forschung wünschen, kann sich doch ihre Neugier als hochgradig nützlich herausstellen. Der Mathematiker Godfrey Harold Hardy interessierte sich für Zahlentheorie und war überzeugt, dass das für nichts gut sei. Er lag falsch: Seine Forschung wurde zur Grundlage der Kryptographie, mit der in diesem Augenblick Ihre Bank Ihr Erspartes vor dem Onlinezugriff durch Verbrecher schützt. 

Ich interessiere mich dafür, warum Vögel so klug sein können, obwohl sie so ein kleines Gehirn haben, das so ganz anders ist als unseres. Verrückt, nicht wahr? Ich bin halt einfach sehr neugierig.

 

Veröffentlicht

Mittwoch
18. Dezember 2024
09:55 Uhr

Von

Onur Güntürkün

Teilen