Interview „Das Problem ist das Gehirn“
Mit einem smarten Bürostuhl will das Start-up Vintus Bewegung am Arbeitsplatz fördern und Krankheiten vorbeugen.
Der moderne Alltag findet in großen Teilen sitzend statt. Als Folge des Bewegungsmangels treten vermehrt Volkskrankheiten wie Rückenschmerzen, Bluthochdruck und Diabetes auf. Das smarte Sitzsystem „Hipwings“ der beiden Gründer Dr. Johannes Wappenschmidt und Ahmed Chekir integriert Bewegung automatisch in den beruflichen Alltag und soll so Krankheiten vorbeugen.
Kürzlich hat das Worldfactory Start-up Center (WSC) Vintus als eines der vielversprechendsten Start-ups 2023 ausgezeichnet. Im Interview erzählt Johannes Wappenschmidt, warum das Gehirn das Problem ist, welche Überraschungen der Gründungsprozess bereithielt und was das Start-up nach Bochum geführt hat.
Herr Wappenschmidt, welche Gründungsidee verbirgt sich hinter dem Start-up Vintus?
70 Prozent des Krankheitsgeschehens in der westlichen Welt sind auf chronische Erkrankungen – sogenannte Volkskrankheiten – zurückzuführen. Der Präventionsbereich ist unübersichtlich und die Fallzahlen steigen stetig. Ahmed Chekir und ich kommen aus der Medizintechnik und haben als Gründer Spaß daran, über mögliche Lösungen nachzudenken.
Körperliche Bewegung und konzentriertes Arbeiten sind gleichzeitig möglich.
So kam uns die Idee, einen Bürostuhl zu entwickeln, der die Bewegung am Arbeitsplatz fördert und chronische Rückenschmerzen vorbeugt. Unser Produkt „Hipwings“ bewegt gezielt nur den unteren Teil des Körpers, genau da, wo rund 60 Prozent der Rückenschmerzen entstehen, während der Oberkörper ruhig bleibt. Körperliche Bewegung und konzentriertes Arbeiten sind so gleichzeitig möglich.
Es gibt bereits höhenverstellbare Schreibtische und ergonomische Stühle. Was unterscheidet „Hipwings“ von anderen Lösungsansätzen?
Bisherige Lösungsansätze lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: Ergonomische Möbel und die Umsetzung ärztlicher Empfehlungen, wie etwa jede halbe Stunde aufstehen und eine Übung machen. Beide Ansätze werden in der Praxis nur selten wie beabsichtigt umgesetzt. Das Problem ist nicht die Rückenform, sondern unser Gehirn. Wir können nicht gleichzeitig konzentriert arbeiten und an Bewegung denken. Hipwings nimmt den Menschen diese parallele Aufgabe ab.
Was hat Sie und Ihr Start-up an die Ruhr-Universität Bochum geführt?
Gestartet sind wir an der RWTH Aachen, wo wir das EXIST Gründerstipendium erhalten und den ersten Prototypen gebaut haben. Die richtigen Partner für unser Start-up haben wir dann an der Ruhr-Universität Bochum gefunden. Im Lehr- und Forschungsbereich Sportmedizin und Sporternährung wurde bereits sechs Jahre lang im Projekt „RAN Rücken“ an dem Thema Rückenschmerzprävention gearbeitet. Gemeinsam haben wir die erste Probandenstudie mit zwanzig Teilnehmenden durchgeführt.
In Bochum hat sich mit der WORLDFACTORY in den letzten Jahren viel getan.
In Bochum hat sich in den letzten Jahren viel getan – mit dem Makerspace, Start-up-Förderung durch das Worldfactory Start-up Center und den Inkubatoren. Gerade im Makerspace hätten wir gerne schon zu Beginn unserer Produktentwicklung übernachtet.
Welchen Schwierigkeiten sind Ihnen im Gründungsprozess begegnet?
Zweimal hat uns die Realität gezwungen, unseren ursprünglichen Businessplan völlig umzustellen. Ursprünglich war es unser Ziel, ein günstiges Bewegungsmodul zu bauen, das jede Person einfach unter ihren Bürostuhl schrauben kann. Die Probandenstudie hat jedoch gezeigt, dass wir die Sitzenden mit dieser Kombination in einen Rundrücken bringen.
Zweimal hat uns die Realität gezwungen, unseren Businessplan umzustellen.
Wir erkannten, dass wir zwar ein ergonomisch gutes Produkt entwickeln können, hierfür aber einen Bürostuhl von Grund auf neu konstruieren müssen. Da Investoren zögerten, unseren völlig neuen Ansatz zu finanzieren, kam es zum zweiten großen Wandel. Ein innovatives Produkt in kleinen Stückzahlen ist leider teurer als ein millionenfach hergestelltes Standardprodukt. Deswegen konzentrieren wir uns mit Hipwings vorerst auf das Hochpreissegment. Für die Zukunft ist es aber nicht ausgeschlossen, dass wir beispielsweise mit traditionellen Bürostuhlherstellern kooperieren werden.
Das Worldfactory Start-up Center hat Vintus als Top-Start-up 2023 ausgezeichnet. Wie hat das WSC Sie bisher bei Ihren Gründungsaktivitäten unterstützt?
Am meisten lernt man von Menschen, die vor Kurzem selbst noch im Gründungsprozess gesteckt haben. Wenn jemand vor 50 Jahren gegründet hat, helfen uns diese Erfahrungen heute kaum noch weiter, denn die Welt ist eine andere. Die Coaches im WSC haben fast alle eigene Erfahrungen mitgebracht.
Profitiert haben wir, neben der Gründungsberatung, von dem hilfreichen Netzwerk und den Vertriebscoachings. Als wir unseren Businessplan über den Haufen werfen mussten, hat uns das WSC als Sparringspartner durch den schwierigen Prozess begleitet.
Woran arbeiten Sie aktuell?
Aktuell schauen wir gemeinsam mit der Sportmedizin, ob unsere Technik nicht nur zur Bewegungsförderung genutzt werden kann, sondern auch zur Linderung chronischer Schmerzen des unteren Rückens. Eine gesundheitliche Nutzenaussage wird allerdings erst durch Langzeitstudien möglich. Dafür haben wir eine Förderung von drei Jahren bekommen.
Was möchten Sie Gründungsinteressierten mit auf den Weg geben?
Nehmt von Beginn an Coachings wahr. Der Kerngedanke dahinter ist, dass man regelmäßig versucht, zu reflektieren. Man muss offen und geistig flexibel bleiben, vor allem, wenn man, wie wir, auf Hindernisse trifft. Es ist Teil des Gründungsprozesses, ständig gegen eine Wand zu laufen. Dann muss man sich entscheiden: Höre ich auf oder finde ich einen Weg drumherum?