Astronomie Der Himmel ist voller als gedacht
Die Sonne versinkt hinter dem Horizont; über der Atacama-Wüste in Chile bricht Dunkelheit herein. Es gibt keinen besseren Ort für astronomische Beobachtungen als diesen. Hier steht die Universitätssternwarte der RUB.
Das RUB-Observatorium befindet sich nur 20 Kilometer entfernt von der größten europäischen Sternwarte, dem Very Large Telescope, auf dem Berg Paranal. „Da stellt sich schon die Frage, was wir als ‚Amateure‘ mit unseren kleinen Instrumenten dort ausrichten können“, sagt Prof. Dr. Rolf Chini, Leiter des Astronomischen Instituts.
Für Beobachtungen richtig Zeit lassen
Eine ganze Menge, lautet die Antwort. Die RUB-Astronomen erreichen mit ihren Teleskopen zwar nicht so eine hohe Auflösung wie die großen Observatorien. Aber sie können sich für ihre Himmelsbeobachtungen richtig Zeit lassen. „An den großen Teleskopen bekommt ein Durchschnittsastronom vielleicht fünf bis zehn Stunden Beobachtungszeit im Jahr – wenn er Glück hat“, erklärt Chini. Das macht es unmöglich, Himmelsobjekte über Tage oder sogar Wochen im Auge zu behalten. Genau das muss das RUB-Team aber für seine speziellen Fragestellungen tun.
Die Bochumer Astronomen interessieren sich für variable Phänomene. Über lange Zeit hinweg beobachten sie, wie sich die Helligkeit von Sternen verändert. „Vor ein paar Jahren hat sich angedeutet, dass massereiche Sterne, die etwa hundertmal schwerer sind als unsere Sonne, bevorzugt als Doppelsterne auftreten“, erzählt Rolf Chini.
Diese Theorie hat er mit seinem Team systematisch überprüft. „Früher dachte ich: Wenn du weißt, wie ein Einzelstern funktioniert, weißt du auch, wie ein Doppelstern funktioniert. Aber das ist falsch“, so Chini. Die Bochumer Astronomen analysierten alle 800 massereichen Sterne, die sie von ihrem Standort in Chile ins Visier nehmen können. Über 90 Prozent entpuppten sich als Mehrfachsysteme, die aus zwei bis vier umeinander kreisenden Sternen bestehen.
Warum aber ist das in den Daten der größten Teleskope der Welt bislang nicht aufgefallen? „In der Regel sind diese Sterne so dicht beieinander, dass man sie nicht als zwei getrennte Punkte auflösen kann“, sagt Chini. Also dachten sich die Bochumer Astronomen einen Trick aus. Sie zerlegten das Licht der Sterne in verschiedene Wellenlängen.
Chemische Zusammensetzung bestimmt Wellenlänge
Die chemische Zusammensetzung eines Sterns bestimmt, bei welchen Wellenlängen er Licht aussendet; man spricht von Spektrallinien. Eine Analyse der Spektrallinien verrät, ob es sich bei einem vermeintlich einzelnen Stern in Wirklichkeit um mehrere handelt.
Die Forscher nutzen die Tatsache, dass sich Sterne in Mehrfachsystemen umeinander drehen und dass dabei der Dopplereffekt auftritt. Diesen Effekt kennt jeder, der schon einmal das Martinshorn eines vorbeifahrenden Krankenwagens gehört hat. Kommt der Krankenwagen auf einen zu, klingt der Ton höher, als wenn sich das Auto von einem wegbewegt.
Etwas Ähnliches passiert auch mit Lichtwellen. Bewegt sich ein Stern auf den Beobachter zu, erscheint das von ihm ausgesandte Licht kurzwelliger, also blauer, als wenn der Stern sich nicht bewegen würde. Entfernt sich der Stern, werden die ausgesandten Lichtwellen langwelliger, also ins Rote verschoben.
Bei vielen der untersuchten Sterne bemerkte Chinis Team, dass sich ihre Spektrallinien regelmäßig änderten, nämlich immer wieder ins Blaue oder Rote verschoben waren. Bei den vermeintlichen Einzelsternen handelte es sich in Wirklichkeit nämlich um zwei Sterne, die umeinander kreisen und somit abwechselnd näher an die Erde heranrücken und sich entfernen. In einigen Systemen entdeckten die Astronomen sogar drei oder vier Sternenpartner. Aus den Daten berechneten sie auch die Umlaufdauer jedes Mehrfachsystems, also wie lange die Sterne brauchen, um sich einmal zu umkreisen.
Schwere Sterne sind nicht allein
Die statistische Auswertung ergab außerdem: Je schwerer ein Stern ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er nicht allein ist. Dabei tun sich bevorzugt Sternenpartner mit ähnlicher Masse zusammen. Laut Rolf Chini kein Zufall: „Warum sollte sich ein Stern von 50 Sonnenmassen in seiner Umgebung ausgerechnet einen Partner von ebenfalls 50 Sonnenmassen einfangen? Er hätte es doch viel leichter, einen Stern von einer Sonnenmasse anzuziehen.
Die Erklärung muss im Entstehungsprozess der Sterne stecken.“ Chini geht davon aus, dass massereiche Sterne bereits als Zwillinge entstehen: Die Himmelskörper gehen aus Gas- und Staubwolken hervor, die sich verdichten. Im Endstadium bricht die Wolke offenbar in zwei Teile.
Inzwischen gibt es Modelle, die diesen Prozess erklären können. In der Tat hatten Wissenschaftler bislang vergeblich versucht, die Entstehung von einzelnen massereichen Sternen theoretisch zu begründen. Die Beobachtungen der RUB-Astronomen geben ihnen nun guten Grund, alternative Modelle der Sternenentstehung zu denken.
Für die Messungen war ständig jemand aus Chinis Team in Chile im Observatorium. Die RUB-Sternwarte ist zwar via Internet mit Bochum verbunden, und alle Teleskope lassen sich prinzipiell aus Deutschland steuern. „Aber ohne jemanden vor Ort geht es nicht“, sagt er. „Sonst bräuchten wir eine Infrastruktur wie bei einem Satelliten, und das wäre unendlich teuer.“
Der Leiter der Universitätssternwarte stand schon immer gerne selbst an den Messinstrumenten: „Von meinem ersten selbst verdienten Geld habe ich mir bei Tchibo ein Telesköpchen gekauft und bin nachts ins Feld gelaufen.“ Vier- bis sechsmal im Jahr fliegt Chini heute in die Atacama-Wüste, um sich um Wartungsarbeiten, Reparaturen und den laufenden Betrieb zu kümmern. Die Infrarotkamera muss jeden Tag mit flüssigem Stickstoff befüllt werden – für die Kühlung.
In Chile zu sein ist toll, aber hinzufliegen ist großer Stress.
Rolf Chini
„In Chile zu sein ist toll“, erzählt er. „Aber hinzufliegen ist großer Stress.“ Aus Deutschland über Madrid nach Santiago de Chile, dann noch einmal weiter mit einem Inlandsflug und schließlich zwei Stunden per Allradfahrzeug den Berg hinauf – es ist nicht leicht, den weltbesten Standort für astronomische Beobachtungen zu erreichen. Aber auch davon lässt sich ein Vollblutastronom selbstverständlich nicht aufhalten.