Interview Eine faszinierende Persönlichkeit
Bei Luther denkt Theologe Traugott Jähnichen nicht nur an den Reformator, sondern an eine Person der Widersprüche.
Was verbinden Sie mit Martin Luther?
Martin Luther ist eine faszinierende Persönlichkeit, gerade in ihren Widersprüchen: Einerseits proklamierte er – mutig widerstehend vor politischen und kirchlichen Autoritäten – die Freiheit eines Christenmenschen. Andererseits war er von tiefen Selbstzweifeln geplagt und sah darin das Wirken des Teufels. Er war ein Sprachengenie, hoch musikalisch und gleichzeitig maßlos im Zorn; einerseits Impulsgeber unzähliger Reformen, andererseits ein Kritiker der Emanzipationsbestrebungen der Bauern. In all dem: ein radikal nach Gott fragender Mensch, in vielem uns fremd und zugleich ungemein herausfordernd.
Luther hielt eine klerikale Bevormundung der Politik ebenso für falsch wie eine Politisierung der Religion.
Was war Ihrer Meinung nach die bedeutendste Folge der Reformation, die unsere Gesellschaft heute noch prägt?
Die Freiheit des Glaubens und die Kritik jeder Form von Zwang oder gar Gewalt in Glaubensdingen sind wesentliche Folgen der Reformation, auch wenn sie sich historisch nur langsam durchgesetzt haben. Luther hielt eine klerikale Bevormundung der Politik ebenso für falsch wie eine Politisierung der Religion. Zudem hat Luther das Handeln der Christen im Alltag der Welt – als Beruf verstanden – ungemein aufgewertet. Beim Handeln geht es um die guten Werke für den Nächsten, nicht um fromme Werke für das eigene Seelenheil.
Was glauben Sie, wie sich die christliche Kirche in Zukunft verändern wird?
Die christlichen Kirchen gibt es nur im Plural, auch dies eine Folge der Reformation. Sie müssen die spirituellen Suchbewegungen in der Gesellschaft produktiv aufnehmen und von ihren jeweiligen Traditionen her Antworten entwickeln, idealerweise in einem Netzwerk mit unterschiedlichen christlichen Ausprägungen. Das bedeutet eine Abkehr von jeglichem behördlichen Charakter, sie werden immer weniger staatsanalog organisiert sein, sondern sich als zivilgesellschaftliche Akteure profilieren.