Die virtuelle Realität gibt Museen, wie hier dem Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven, neue Möglichkeiten, den Besucherinnen und Besuchern die Inhalte zu vermitteln.
© DSM, Patrick Szalewicz

Medienwissenschaft Virtuelle Museen

Die digitale Revolution macht auch vor Museen nicht halt und manch einer fragt sich, welchen Stellenwert Originale in Zukunft haben werden. Dabei waren Museen schon immer virtuell.

VR-Brillen und Augmented-Reality-Anwendungen sind im Trend. Beispielsweise in Museen versprechen sie ganz neue Besuchserlebnisse. Und manch einer mag sich fragen, ob man sich den physischen Besuch im Museum eines Tages vielleicht ganz sparen kann, weil die gleichen Erfahrungen auch in der virtuellen Realität gemacht werden können. Brechen Museen mit dem, was sie einmal gewesen sind? Was ist echt, was ist authentisch? Und lässt sich die Aura des Originals in digitale Welten übertragen? Mit diesen Fragen hat sich Dr. Dennis Niewerth in seiner Doktorarbeit am Bochumer Institut für Medienwissenschaft befasst.

Eigentlich waren Museen schon immer virtuell.


Dennis Niewerth

„Schon in meinem Masterstudium habe ich festgestellt, dass es zwar viel Literatur zu virtuellen oder digitalen Museen gibt, aber es sind vorwiegend Einzelprojekte beschrieben worden, wenig Übergreifendes“, erzählt Niewerth. Also beschäftigte er sich intensiv mit dem Thema, zum Beispiel mit der Frage, wie Museen eigentlich ihre Erlebnisqualität erzeugen. „Am Ende bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Museen eigentlich schon immer virtuell waren“, erzählt Niewerth und erklärt, wo Virtualität sprachlich ihren Ursprung hat.

Kein Synonym zu digital

Heute verwenden Menschen den Begriff virtuell häufig synonym mit digital, es geht fast immer um Computer – allerdings bezeichnet das Digitale eigentlich etwas rein Technisches, während die Virtualität eine komplexere Geschichte hat. Der Medienwissenschaftler Stefan Münker zeigte, dass Virtualität auf den antiken Begriff „virtus“ zurückgeht, was zum einen Tugend bedeutet, zum anderen für die Teilhabe an kultischen Zeremonien und an göttlicher Macht stand. Später tauchte der Begriff im Mittelalter als „virtualis“ oder „virtualitas“ wieder auf, und bezeichnete etwas, was in der Wirklichkeit angelegt ist, aber noch nicht verwirklicht wurde – wie ein Gesetz, das nur dann existiert, wenn es von der Polizei durchgesetzt oder von einem Bürger aus Angst vor Strafe eingehalten wird.

Nach Definition des Philosophen Gilles Deleuze ist die Virtualität daher nicht als Gegenpart zur Realität zu verstehen, sondern zur Aktualität. „Letztere ist das, was bereits in eine Handlung umgesetzt wurde“, erklärt Niewerth, „im Gegensatz zum Virtuellen, was erst angelegt ist. Wenn man den Begriff ‚virtuell‘ auf diese Weise versteht, dann sind Museen etwas ganz tief Virtuelles.“

Die Aura des Originals

Betrachtet man das Beispiel eines typischen Museumsobjekts, etwa einer griechischen Vase, so lässt sich dieser Gedankengang nachvollziehen: In der Vase ist nicht nur eine einzige Erzählung angelegt, sondern je nach Kontext viele verschiedene. Sie kann eine Quelle der Technikgeschichte sein und etwas über Keramikproduktion vermitteln, eine Quelle der Kunstgeschichte, weil sie bestimmte Darstellungen einer Epoche enthält, oder eine Quelle der Handelsgeschichte, weil sie erlaubt, antike Handelswege zu rekonstruieren. Diese Geschichten wohnen aber nicht der Vase selbst inne; sie sind nicht das, was mit dem Objekt tatsächlich passiert ist, sondern nur unsere heutigen Interpretationen. Welche Geschichte die Vase erzählt, bestimmen die Kuratoren, die die Ausstellung zusammenstellen – durch andere Gegenstände, mit der sie die Vase in Beziehung setzen, oder schlicht durch Plaketten mit erklärenden Texten am Objekt selbst.

Dennis Niewerth promovierte am Bochumer Institut für Medienwissenschaft und ist nun am Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven angestellt.
© DSM

Egal wie viele Objekte eine Sammlung enthält, sie kann nie ein vollständiges Bild vermitteln, sondern bleibt fragmentarisch. Allein schon, weil bestimmte Kulturgüter wie Gebäude oder Fresken nicht ins Museum transportiert werden können – zumindest nicht im Original. Kulturtheoretiker wie Walter Benjamin befassen sich schon seit der Erfindung der Fotografie damit, wie sich die Anmutung von Kulturgütern durch ihre Reproduzierbarkeit verändert: Ist es das Gleiche, ein Foto der berühmten Mona Lisa zu betrachten, wie das Original auf sich wirken zu lassen? Oder lässt die Reproduktion die Aura verschwinden?

„Man kann argumentieren, dass die Aura nichts ist, was das Kunstwerk aus seiner historischen Entstehung heraus mitbringt, sondern ein Produkt davon, wie es in der Gegenwart inszeniert wird“, schildert Dennis Niewerth. Unbestritten ist für ihn, dass Kunstwerke die Betrachterinnen und Betrachter in gewisse Gefühlszustände versetzen können. Aber diese werden nicht allein von dem Original bestimmt, sondern auch von all den Vorerfahrungen, die man mit dem Objekt schon gemacht hat. „Viele Kunstwerke sind zigfach reproduziert oder auch verfremdet worden“, sagt er. „Das formt das Erlebnis, das man beim Betrachten des Originals erfährt.“

Digitale Geräte bringen eine eigene Aura mit

Auch mediale Erfahrungen spielen in das Gefühlserlebnis mit hinein. „Natürlich ist die Aura beim Betrachten des Originals oder beim Betrachten eines Fotos vom Original auf einem Handy eine andere“, sagt Niewerth. „Ich würde sogar sagen, dass das Gerät, auf dem wir die Reproduktion des Kunstwerks betrachten, eine eigene Aura mit sich bringt.“ Er gibt ein Beispiel: „Wenn Menschen eine Nacht vor einem Apple-Laden zelten, um am nächsten Morgen als erste das neue I-Phone heraustragen zu können, wirkt sich das natürlich auch darauf aus, wie sie sich mit Inhalten auseinandersetzen, die sie auf dem Gerät abrufen.“

Angeklickt
  • Interview zur Virtualität in der RUB-Medienwissenschaft mit Prof. Dr. Stefan Rieger, an dessen Lehrstuhl Dennis Niewerth promovierte

Diese Phänomene begleiten Dennis Niewerth auch nach seiner Doktorarbeit noch bei seiner heutigen Arbeit im Deutschen Schifffahrtsmuseum, einem Forschungsmuseum der Leibniz-Gemeinschaft. Das Team erstellt derzeit einen Katalog von Modellschiffen, die mittels Fotogrammetrie – der Vermessung von Objekten mithilfe von Fotoserien – dreidimensional erfasst und digitalisiert werden. Auch eine Augmented-Reality-Anwendung soll auf dieser Grundlage entstehen. „Bei dieser Arbeit entstehen verschiedene Schichten von Virtualität“, sagt Dennis Niewerth. „Da man die Originalschiffe in der Regel nicht ins Museum bringen kann, weil sie zu groß sind oder am Meeresboden liegen, existieren sie im Museum nur als Modelle, die also bereits virtuelle Objekte sind – und die digitalisieren wir jetzt noch.“ So ist der Forscher mittendrin in einem durch und durch virtuellen Museum.

Originalveröffentlichung

Dennis Niewerth: Dinge – Nutzer – Netze: Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen, Transcript-Verlag, Bielefeld 2018, 426 Seiten, ISBN: 9783837642322

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Veröffentlicht

Freitag
27. September 2019
09:24 Uhr

Von

Julia Weiler

Dieser Artikel ist am 4. November 2019 in Rubin 2/2019 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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