Plasma- und Grenzflächentheorie Was genau an der Grenzschicht zwischen Plasma und Oberfläche geschieht
Im kleinsten Detail berechnen Forschende die Vorgänge in Plasmen und in Grenzschichten zwischen Plasmen und Oberflächen. So wollen sie verstehen, was geschieht, und es sich besser zunutze machen.
Plasmen werden schon seit Jahrzehnten mit großem Erfolg in der Industrie genutzt. Ihre Anwendung basierte jedoch in vielen Fällen auf Versuch und Irrtum. Ein tiefergehendes Verständnis der Prozesse, die in den angeregten Gasen teilweise in kürzester Zeit und auf winzigen Längenskalen ablaufen, fehlte bislang weitgehend. Auf dieses neue Gebiet wagen sich Forschende aus Bochum und Ulm im Sonderforschungsbereich 1316 „Transiente Atmosphärendruckplasmen“ gemeinsam vor.
Ihre Arbeitsgebiete ergänzen sich dabei: Während Prof. Dr. Thomas Mussenbrock, Inhaber des Lehrstuhls für Angewandte Elektrodynamik und Plasmatechnik der RUB, das Plasma als Ganzes im Blick hat, stellt Prof. Dr. Timo Jacob, Leiter des Instituts für Elektrochemie der Universität Ulm, atomare Abläufe in den Mittelpunkt. „Wir berechnen Prozesse an verschiedenen Enden der Zeit- und Längenskalen und versuchen, die bisherige Lücke dazwischen zu füllen“, fasst Mussenbrock zusammen.
Komplizierte Moleküle
Timo Jacob ist der Spezialist für Grenzflächen zwischen Plasmen und ihrer Umgebung. Diese Grenze kann sowohl zwischen Plasma und Feststoff, aber auch zwischen Plasma und Flüssigkeit verlaufen. „Jemand, der eine Oberfläche mittels Plasma beschichten oder verändern will, sieht sich vor allem an, welche Teilchen mit welcher Energie aus dem Plasma darauf auftreffen“, erklärt er. Dieser Prozess scheint einfach und berechenbar. Sein Team geht aber wesentlich weiter ins Detail. Denn in Plasmen können sich auch komplizierte Moleküle bilden, die in spezifischen angeregten Zuständen vorliegen. Diese können dann sowohl die Eigenschaften und die Struktur von katalytischen Oberflächen verändern oder auch direkt aktiv Einfluss auf Reaktionen an der Grenzfläche nehmen. Über solche Details gab es bisher kaum Erkenntnisse. „Dafür mussten wir erst einmal das Handwerkszeug entwickeln“, so Jacob.
Er und sein Team etablierten Methoden, die beschreiben können, wie das Plasma die Moleküle während einer Reaktion verändert. Aus den Bewegungen der Moleküle zum Beispiel kann ein Effekt auf die Grenzfläche resultieren, der zwar sehr instabil ist, aber interessant für katalytische Reaktionen.
Der Aufwand wächst kubisch
Die so berechneten Prozesse laufen auf der Ångström- oder Nanometerskala binnen Sekundenbruchteilen ab. Je weniger Effekte man zeitgleich berechnen muss, desto genauer kann die Simulation werden. „Unsere hochgenauen Berechnungen beziehen maximal 300 bis 400 Atome ein, semi-empirische dynamische Simulationen dann sogar mehrere 100.000“, erklärt der Forscher. „Und dafür nutzen wir teils eigens angeschaffte Rechencluster oder Großrechner an Hochleistungsrechenzentren.“ Der Aufwand wächst meist kubisch, das heißt bei doppelt so vielen Atomen, die in die Berechnung einfließen sollen, verachtfacht sich der Rechenaufwand.
Die gewonnenen, grundlegenden Erkenntnisse sollen unter anderem helfen, Plasmen für neue Anwendungen nutzbar zu machen, darunter besonders wichtig: katalytische Prozesse. Als Modell nutzen die Forschenden dabei sowohl die Reduktion von Kohlendioxid (CO2) als auch die Zerlegung von verhältnismäßig einfachen Kohlenwasserstoffen am Beispiel von n-Butan.
Die Datenlage ist extrem dünn
Für eine Nutzung genügt es natürlich nicht, nur wenige Hundert Atome zu betrachten. Hier ergänzt die Arbeit von Thomas Mussenbrocks Team das Gesamtbild. Seine Längenskala ist eine Milliarde Mal größer als die von Jacob. Quantenmechanische Effekte, die auf der atomaren Ebene von Bedeutung sind, brauchen hier nicht mehr explizit berücksichtigt zu werden. Es geht darum, die Plasmadynamik und die Plasmachemie abzubilden. „Wir schauen uns das Plasma basierend auf der klassischen Physik an“, sagt Mussenbrock. Die Methoden sind hierfür bekannt und gut verstanden, aber die Datenlage ist extrem dünn.
Eine besondere Herausforderung liegt darin, dass industrielle Prozesse mit Plasmen möglichst bei Atmosphärendruck und am besten in der Luft stattfinden sollen. „Bei diesem verhältnismäßig hohen Druck spielen viele Wechselwirkungen eine Rolle“, erklärt Mussenbrock. Was reagiert wie stark mit welchen Molekülen und Atomen? Ausgehend von den Ergebnissen der Berechnungen von Timo Jacob skaliert sein Team die Simulation hoch. Die Ergebnisse lassen sich mit Experimenten abgleichen – Abweichungen müssen verstanden und erklärt werden.
„Das Zusammenbringen der beiden Enden der Zeit- und Längenskalen ist wissenschaftliches Neuland“, unterstreicht Thomas Mussenbrock. Die Teams leisten daher gemeinsam Pionierarbeit. Vielleicht kann es irgendwann dank der Erkenntnisse gelingen, großindustrielle Prozesse wie etwa die Ammoniakherstellung energieeffizienter zu machen.