Literaturwissenschaft Feministische Theaterproduktion von 1884 entdeckt
Auch weibliche Rollen wurden normalerweise mit Männern besetzt, und Frauen durften nicht studieren. Doch hier war alles anders.
Julia Jennifer Beine forscht im Bereich der Klassischen Philologie und Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum und promoviert bei Prof. Dr. Manuel Baumbach. Während ihrer Recherche für einen Konferenzbeitrag entdeckte sie eine Theaterproduktion aus Missouri aus dem Jahr 1884 von einer ausschließlich aus Studentinnen bestehenden Gruppe – zu einer Zeit, in der man an den Universitäten auch weibliche Rollen mit Männern besetzte und die Aufnahme von Frauen zum Studium noch nicht selbstverständlich war. Im Interview erklärt sie die Hintergründe dazu.
Frau Beine, welche Theaterproduktion haben sie entdeckt? Und wie?
Schon 1884 führte die Ladies’ Literary Society der Washington University in St. Louis Plautus’ Komödie „Rudens“ („Das Tau“) auf. Gefunden habe ich den Hinweis darauf während der Vorbereitung auf eine Konferenz, bei der es um Bühnenadaptationen des römischen Dichters Plautus ging.
So bin ich zu einem umfangreichen Kompendium gekommen, dem Buch „Plautus. Spätere Bearbeitungen plautinischer Lustspiele. Ein Beitrag zur vergleichenden Litteraturgeschichte“ von Karl von Reinhardstöttner aus dem Jahr 1886. Er war Romanist, sehr gut vernetzt in Europa und hat alle ihm bekannten Adaptationen von Plautus’ Komödien gesammelt. Von Reinhardstöttner erwähnt in seinem Werk eine sehr frühe Theaterproduktion einer Frauengruppe in St. Louis und zitiert aus Zeitschriftenartikeln, die darüber berichteten. Diese Notiz hat mich so neugierig gemacht, dass ich mehrere Archive, Bibliotheken, Museen und Societies in Missouri kontaktiert und Materialien zu der Produktion gesammelt habe.
Damals war es ein Trend, antike Dramen so authentisch wie möglich in der Originalsprache aufzuführen.
Gab es einen bestimmten Anlass für die Theaterproduktion?
Damals war es ein Trend an den US-amerikanischen Universitäten, antike Dramen so authentisch wie möglich in der Originalsprache aufzuführen. In diesem Kontext war die Produktion der Ladies’ Literary Society die Antwort auf eine Produktion von Sophokles’ griechischer Tragödie „Oedipus Tyrannus“, die Studenten aus Harvard 1881 originalgetreu mit rein männlicher Besetzung präsentiert hatten.
In Harvard war das Projekt jedoch von Professoren organisiert worden und es standen sehr großzügige Geldmittel zur Verfügung. Die Initiative in St. Louis ging von den Studentinnen aus. Sie haben mit einem sehr geringen Budget alles selbst arrangiert. Außerdem haben sie für das gedruckte Textbuch zur Aufführung den lateinischen Text selbst ins Englische übersetzt; dieses Libretto ist heute noch erhalten.
Hat man damals an den Universitäten Theaterrollen ausschließlich von Männern spielen lassen?
Ja. Soweit ich das herausgefunden habe, war die Produktion der Ladies’ Literary Society die erste rein weibliche Produktion einer antiken Komödie in den USA im universitären Kontext. Ich habe in den Datenbanken keine frühere gefunden. Dafür sprechen auch die historischen, zeitgenössischen Zeitschriftenartikel, die ich gelesen habe.
Das einzige vorher von Frauen an einer Universität aufgeführte Stück war eine Parodie des Harvard-„Ödipus“. Dabei handelte es sich aber nicht um eine eigenständige Produktion eines Originalstückes.
Das Original handelt von der jungen Frau Palaestra, die zwar freigeboren, jedoch in den Besitz eines Kupplers geraten ist.
Worum geht es in der Komödie „Rudens“?
Das Original handelt von der jungen Frau Palaestra, die zwar freigeboren, jedoch in den Besitz eines Kupplers geraten ist, für den sie als Hetäre arbeiten muss. Damit gehört sie zu den besser gestellten und gebildeteren Prostituierten, die auch als Unterhaltungsdamen dienen, genau wie Ampelisca, die ebenfalls dem Kuppler gehört.
Eigentlich hatte Palaestras Geliebter mit dem Kuppler vereinbart, sie freizukaufen, war dabei aber betrogen worden. Daher befinden sich die Frauen weiterhin im Besitz des Kupplers; zu Beginn der Komödie sind alle drei auf einem Schiff.
Um den Frauen zu helfen, beschwört der Gott Arcturus einen Sturm herauf. Sie erleiden Schiffbruch und gelangen ausgerechnet an den Strand, an dem Palaestras Vater wohnt. Beim Schiffbruch geht auch ein Koffer mit Schmuckstücken aus Palaestras Kindheit über Bord und wird später von einem Fischer aus dem Meer gezogen, in der Hoffnung auf Gold.
Mit einem anderen Sklaven, der weiß, dass sich Palaestras Schmuckstücke, die sie als Freigeborene ausweisen und damit aus der Sklaverei befreien können, in dem Koffer befinden, kommt es zu einem Tauziehen am Fischernetz. Der Fischer verliert und muss den Koffer an einen hinzugezogenen Schiedsmann übergeben: Palaestras Vater. Dieser erkennt Palaestra als seine Tochter und erteilt seine Erlaubnis, ihren Geliebten zu heiraten.
Die Änderungen der Studentinnen verschafften dem Stück eine große zeitgenössische Relevanz.
Was war so besonders an der Inszenierung aus St. Louis?
Im Vergleich zur Harvard-Produktion hatten die Frauen eine ganz andere Herangehensweise. Sie haben die Handlung an damals herrschende gesellschaftliche Wertvorstellungen und den Zeitgeist angepasst. So wurde die Handlung desexualisiert: Aus den Hetären des Originaltextes wurden Sklavinnen und der Kuppler wurde zum Sklavenhändler. Diese Änderung verschaffte dem Stück vor dem Hintergrund des amerikanischen Bürgerkriegs und der Abschaffung der Sklaverei in den 1860ern eine große zeitgenössische Relevanz.
Außerdem haben sie ihre Inszenierung in die Nähe des Melodramas gerückt, in dem Gefühle stark hervorgehoben wurden. Das war damals eines der beliebtesten Genres und richtete sich vor allem an Frauen. Den Rezensionen nach war das Publikum sehr angetan von den gefühlsbetonten Szenen. Auch die Rolle des Schicksals, durch das die Liebenden zueinanderfinden, bauten die Studentinnen weiter aus.
Was wollten die Frauen durch ihre Inszenierung erreichen?
Das sieht man an einem Zitat aus einer Studierendenzeitung der Washington University. Demzufolge wollten die Frauen zeigen, dass auch sie etwas auf dem Campus leisten und zur Reputation der Universität beitragen können. Ihre feministische Produktion sollte damit das Modell der Co-Education an ihrer Universität bekräftigen. Außerdem wollten sie gern an dem zuvor rein männlichen Trend teilhaben, antike Stücke authentisch zu inszenieren, und dabei ihr Können beweisen.
Die Rezensionen in den Lokalzeitungen waren durchweg positiv.
Ist Ihnen das gelungen?
Ja, die Rezensionen in den Lokalzeitungen waren durchweg positiv. Da schwang sicher auch ein gewisser regionaler Stolz mit, dass die Stadt St. Louis mit Cambridge und der Harvard University mithalten konnte. In den Rezensionen wurde das immer betont: Obwohl das Budget sehr klein war und die Frauen alles selbst gemacht haben, sei ihnen die Produktion genauso gut gelungen wie die des „Ödipus“ den Harvard-Studenten.
Die Studentinnen hatten sich einen Schirmherrn gesucht, den damaligen Lateinprofessor. Als dieser beim Applaus auf die Bühne gebeten worden sei, habe er das aber abgelehnt, weil sein Anteil sehr gering gewesen sei. Er hat also den Frauen die Bühne gelassen, was dafür spricht, dass ihnen gegenüber durchaus ein großer Respekt vorhanden war.
Außerdem war das Stück in St. Louis sogar 1931 noch sehr präsent. Da wurde es noch mal in gemischter Besetzung und lateinischer Sprache aufgeführt. Dabei saß sogar eine der Originalschauspielerinnen im Publikum.
2021 gab es dann die dritte Aufführung von „Rudens“ an der Washington University in St. Louis, diesmal in der Übersetzung der Society, aber über Zoom. Diese wurde aufgenommen, sodass man sie sich auch nachträglich noch ansehen kann.
Wer saß 1884 im Publikum?
Das Publikum war sehr divers. Einerseits waren dort sehr junge Leute, häufig Frauen, die das Zielpublikum des Melodramas waren. Andererseits kamen auch einige „Herren mit ergrautem oder durchs Alter bloßem Haupt“. Das waren dann zum Beispiel Anwälte oder Akademiker, die bei diesem Social Event zeigen wollten, dass sie gebildet sind, hervorragend Latein können, und das Libretto in englischer Sprache nicht benötigen.
Andererseits sahen auch Leute zu, die kein Latein konnten. Für sie war die gedruckte englische Übersetzung des Stückes. Es soll aber so gut geschauspielert worden sein, dass man auch ohne Übersetzung erkennen konnten, worum es in den entsprechenden Szenen ging.
Die Studentinnen in St. Louis gehörten zu den ersten Frauen an ihrer Universität.
Wie war das Publikum in Harvard zusammengesetzt?
Darüber wird berichtet, dass alle Literaten aus den USA dorthin gereist seien. In einer Aufzählung der Gäste befinden sich einige Dichter und andere Größen der amerikanischen Kulturszene.
Was fasziniert Sie an diesem Thema?
Man rechnet nicht damit, dass 1884 mittels eines antiken Dramas Stellung zu dem noch heute aktuellen Thema Gender und Co-Education bezogen wurde. Außerdem fand ich die Idee der Society spannend, über die Antike so eine Relevanz zu schaffen.
Wie weit war die Co-Education an den amerikanischen Universitäten 1884?
Die Studentinnen in St. Louis gehörten zu den ersten Frauen an ihrer Universität. Das kann man aber nicht für die ganzen USA sagen. Ich weiß aus den Studierendenzeitschriften der Universitäten, dass einige noch gar keine Frauen zuließen. Zu dieser Zeit gab es einen Diskurs zu dem Thema und es war noch eine Nachricht wert, wenn wieder eine Universität beschlossen hatte, Frauen zum Studium zuzulassen.
Wie viele Frauen sich schon an den Universitäten befanden, ließ sich nicht so leicht herausfinden. Man sieht aber an der Redaktion der Studierendenzeitschrift der Washington University, dass Anfang der 1880er nur Männer beteiligt waren und sich nach und nach immer mehr Frauen hinzugesellten. Man kann auch einen Trend erkennen, dass sich die Frauen allmählich über die Societies auf dem Campus bemerkbar machten.
Als die Studenten in der Redaktion noch rein männlich waren, gab es viele Essays gegen die Co-Education.
Wie war die Stimmung in der Gesellschaft bezüglich der Frauen an den Universitäten?
Das habe ich mir exemplarisch am Beispiel der Studentenzeitschrift „Student Life“ an der Washington University angesehen. Als die Studenten in der Redaktion noch rein männlich waren, gab es viele Essays gegen die Co-Education. Sobald immer mehr Frauen an der Universität studiert haben und auch Mitglieder der Redaktion geworden waren, brachte die Redaktion dann beide Standpunkte, also für und gegen Co-Education.
Später gab es dann Essays über die Rolle der Frau, die auch recht polemisch waren, obwohl schon Frauen an der Universität studierten. Hinzu kam eine eigene Nachrichtenspalte, in der über die unterschiedlichen Universitäten berichtet wurde, wenn Co-Education abgelehnt, diskutiert oder zugelassen wurde.