Zehn Jahre RESOLV Als Außenseiter an die Weltspitze
Die Lösungsmittelchemie lag als Thema überhaupt nicht in der Luft. Inzwischen ist das Exzellenzcluster international dafür bekannt.
2012 wurde das Exzellenzcluster Ruhr Explores Solvation, kurz RESOLV, an der RUB bewilligt. Heute ist die Lösungsmittelforschung aus dem Ruhrgebiet weltbekannt. Zum zehnten Jubiläum reist alles an, was in der Chemie Rang und Namen hat. Sprecherin Prof. Dr. Martina Havenith-Newen blickt zurück.
Frau Professor Havenith-Newen, erinnern Sie sich noch, wie es war, als Sie das wissenschaftliche Programm des Clusters für die Bewerbung in der Exzellenzinitiative entworfen haben? Wie kam es zu der thematischen Zuspitzung auf Lösungsmittelchemie? Lag das Themenfeld in der Luft?
Ich war zu diesem Zeitpunkt eigentlich auf dem Absprung nach Freiburg, ich wollte eigentlich weg. Ich passte hier nicht hin. Der damalige Rektor, Professor Elmar Weiler, hat dann zu mir gesagt: „Wenn Menschen und Strukturen nicht zusammenpassen, muss man nicht unbedingt die Menschen austauschen. Man kann auch die Strukturen ändern. Bauen Sie einen eigenen Schwerpunkt auf.“
Ich weiß noch, wie ich dann auf einer Bahnfahrt eine Mail an zwei Kollegen geschrieben habe und angefragt habe, ob sie mich beim Aufbau eines neuen Schwerpunktes „Solvatation“ unterstützen. Sie haben beide sofort zugesagt.
Das Thema war nicht Mainstream. Man muss ja immer schauen: Wo sind wir einzigartig? Wo sind wir besser als andere? Welches Thema ist noch nicht besetzt? Ein Exzellenzcluster Katalyse gab es zum Beispiel schon – das ging also nicht. Aber im Bereich Solvatation hatten wir herausragende Publikationen und Expertise quer über den Campus aufzuweisen. Die Wahl des Lösungsmittels bestimmt die Reaktion. Das war bereits jahrzehntelang bekannt. Aber inzwischen gab es neue mikroskopische experimentelle Techniken, und die Theorie war in der Lage, nicht mehr nur ein Wassermolekül mit einem einzelnen Reaktanten zu simulieren, sondern ein ganzes Ensemble. Im Experiment konnten wir Bewegungen einzelner Wassermoleküle in Echtzeit, das heißt mit einer Zeitkonstante von einem Milliardsten von einer Millisekunde beobachten, das war damals ganz neu. Das ermöglichte erstmals eine neue Sichtweise – bottom up anstatt top down. Es war einfach genau der richtige Zeitpunkt für einen Umbruch in der Lösungsmittelforschung.
Waren Sie damals siegesgewiss?
Nein. Wir waren nur enthusiastisch. Es gab ja parallel zu unserer Initiative Clusterinitiativen in der Proteinforschung und der Materialwissenschaft, die von langer Hand vorbereitet und finanziert worden waren. Das galt für uns nicht, wir waren nicht gesetzt. Und es gab starke Konkurrenz aus ganz Deutschland, unter anderem aus Bonn und Mainz.
Nach der Begutachtung hat einer der Gutachter zu mir gesagt: „You dared to go much beyond what the others proposed“. Und es wurde hinzugefügt, dass wir mehr als ein Team aufgetreten sind als die anderen.
Ich war in dieser Zeit der Fußballtrainer eines neuen Teams – und habe gleichzeitig auch selbst mitgespielt.
Das heißt, obwohl Sie eigentlich weg wollten, hat die Phase der Antragstellung Sie als Team zusammengeschweißt?
Ja. Ich war in dieser Zeit der Fußballtrainer eines neuen Teams – und habe gleichzeitig auch selbst mitgespielt. Das Motto war: Wir sind nicht wie Bayern München, die immer gewinnen. Wir sind wie Dortmund: Wir sind jünger und wir laufen mehr. Tatsächlich haben wir viel mehr jüngere Forschende in das Cluster eingebunden als andere. Schließlich waren wir als Außenseiter erfolgreich.
In zehn Jahren gibt es sicher viele Highlights. An welche erinnern Sie sich am liebsten?
Das letzte Highlight war natürlich die Verleihung des Nobelpreises für Chemie an Benjamin List 2021. 2016 wurde unser Forschungsbau ZEMOS eröffnet, erst kürzlich war das Richtfest für einen weiteren Forschungsbau namens CALEDO in Dortmund.
Auch die von RESOLV inspirierte Gründung des Schwesterinstituts CALSOLV in Berkeley war natürlich eine tolle Sache.
Gab es auch Momente, in denen Sie dachten: Hätten wir uns das mal nicht angetan?
Es gab zwei solcher Momente: Kurz vor dem Beginn des Forschungsbaus kam die Nachricht, dass es einen neue Brandschutzverordnung in NRW geben wird. Zunächst wurde signalisiert, dass damit alle Planungen bis zu diesem Tag hinfällig sind, der Bau um mindestens zwei Jahre verzögert wird und unabsehbare Kosten auf uns zu kommen. Es wäre damit fraglich geworden, wann und ob der Forschungsbau noch erstellt wird. Durch viele klärende Gespräche mit den Politikern, den Vertretern des Ministeriums und den beteiligten Firmen konnte der Baustopp nach drei Monaten wieder aufgehoben werden. Letztendlich wurde der Bau regelkonform im Kosten- und im Zeitplan fertiggestellt.
2018 kam kurz nach der Bewilligung die Nachricht, dass die Fördermittel für alle Cluster um 30 Prozent gekürzt werden. Das war ein Tiefpunkt. Mit der Kürzung wurde man völlig alleingelassen, jeder schickte einen zu der nächsten Stelle und keiner hat geholfen. Wir hatten beste Bewertungen, keine Kritik, nur Lob bekommen. Wie sollte ich das vor den Kollegen rechtfertigen? Am Ende waren harte Schnitte nötig. Die vielen schwierigen Diskussionen blieben letztlich an mir hängen.
Das Lösungsmittel, Wasser, ist nicht nur Zuschauer, sondern ist ein wichtiger Nebendarsteller.
Welche Erkenntnisse hätte die weltweite Chemie-Community ohne RESOLV (noch) nicht?
Wir haben einen Paradigmenwechsel vollzogen: Zuvor wurden Lösungsmittel nur makroskopisch verstanden. Alle Chemiker wussten natürlich, dass die Wahl des Lösungsmittels einen Einfluss auf Reaktionen ausübt, aber man konnte das nicht im Detail erklären. Ich vergleiche das gern mit dem Auftritt der Stars bei den Filmfestspielen in Cannes: Die Proteine zum Beispiel wurden immer als die Stars angesehen, die den roten Teppich betreten. Die Menge bildet den Hintergrund, der zur Seite geht, sobald die Hauptdarsteller auftreten. Aber das ist falsch. Das Lösungsmittel, Wasser, ist nicht nur Zuschauer, sondern ist ein wichtiger Nebendarsteller. Sie können Reaktionen oder molekulare Erkennungsprozesse mitsteuern, das heißt sie sind aktive Mitspieler.
Im Laufe dieser zehn Jahre haben wir so viele Erkenntnisse gewonnen! Mithilfe des Lösungsmittels kann man zum Beispiel steuern, dass von zwei möglichen spiegelbildlich aufgebauten Molekülen, den sogenannten Enantiomeren, bevorzugt nur eines in der Reaktion gebildet wird, das gewünschte.
Ein weiteres Thema war die Einbettung von Hydrogenasen für die Produktion von Wasserstoff. Innerhalb von RESOLV konnte durch Modifikation ihrer wässrigen Umgebung mittels sogenannter Hydrogele der oxidative Stress reguliert werden. Dies führt zu längeren Lebenszeiten und eröffnet vielleicht ganz neue technologische Anwendungen in Brennstoffzellen.
Die Bildung von toxischen Proteinaggregaten, die etwa zu neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer führen können, lassen sich gezielt durch Variation des wässrigen Lösungsmittels beeinflussen. Wasser ist hier nicht gleich Wasser. Wir konnten zeigen, dass unterschiedliche Wasserpopulationen dafür verantwortlich sind, ob sich Aggregate bilden oder nicht. Wenn wir das grundlegend verstanden haben, können wir in ferner Zukunft auch steuernd eingreifen.
In winzigen Behältern oder Containern, die mittels chemischer Synthese maßgeschneidert werden, können Reaktionen ganz anders ablaufen als unter normalen Bedingungen. Wasser in einem solchen Käfigmolekül ist weder flüssig, noch ist es Eis, wie man mal vermutet hat, es hat eine eigene Phase.
Welche Fragen werden künftig in den Mittelpunkt rücken?
Das kann ich noch nicht verraten. Da muss ich auch an die Konkurrenz denken.
Diversität ist aber nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel, um aus einem breiten Pool die besten Kandidaten zu gewinnen.
Mit welchem Gefühl blicken Sie auf zehn Jahre RESOLV zurück?
Es hat sich einfach unglaublich viel verändert in diesen zehn Jahren. Es gibt neue Strukturen an der RUB, RESOLV ist international sichtbar, eine bekannte Marke. Wir haben vieles anders gemacht, zum Beispiel Berufungen. Wir haben externe Berufungskommissionen eingesetzt, mit internationalen absoluten Top-Wissenschaftler*innen. Das zieht natürlich auch Spitzenleute weltweit an. Dadurch wird das Team natürlicherweise sehr viel diverser und internationaler als bei den üblichen Berufungen. Diversität ist aber nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel, um aus einem breiten Pool die besten Kandidat*innen zu gewinnen.
Apropos Diversität: Gleichberechtigung ist Ihnen schon immer ein Anliegen gewesen. Wie macht sich das in RESOLV noch bemerkbar?
Viele Dinge konnte ich nur dank der Clustermittel umsetzen, zum Beispiel die Gründung des Women Professors Forum. Wir haben darüber hinaus ein Förderprogramm für Mütter: Wenn eine Wissenschaftlerin schwanger wird, bekommt sie Hilfe, und zwar eine Karrierestufe unter ihrer eigenen. Eine Doktorandin bekommt zum Beispiel eine studentische Hilfskraft, eine Professorin eine zusätzliche Postdoktorandenstelle für zwei Jahre finanziert. Die Verantwortung bleibt dadurch bei der Frau. Sie verliert ihr Projekt nicht, wie wenn wir jemanden auf derselben Karrierestufe einstellen würden. So gibt es keine Konkurrenz und die Forscherin erwirbt außerdem Führungserfahrung. Dadurch haben wir in RESOLV sehr viele leistungsstarke Frauen. Ein Gutachter hat mir mal gesagt, das sei das beste Genderkonzept, das er je gesehen hat.
Ein Cluster muss mehr sein als die Summe seiner Teile.
Die Leitung so eines großen Clusters ist sicher sehr viel Arbeit. Kommen Sie selbst noch zum Forschen?
Es ist unglaublich viel Arbeit, aber ich habe ja ein Superteam, das Board von RESOLV. Es besteht aus sehr unterschiedlichen Charakteren, die gut zusammenarbeiten – das ist unser Erfolgsgarant. Wenn man nur einen tollen Hecht an der Spitze hat, der allen sagt, was zu tun ist, dann klappt das nicht. Ein Cluster muss mehr sein als die Summe seiner Teile.
Und ja, ich komme trotzdem noch dazu zu forschen. Ich schreibe Papers, ich nehme an Konferenzen teil – allein diesen Sommer wurde ich als Vortragende zu sechs internationalen Konferenzen eingeladen; das ist für mich ein Highlight. Im Schnitt halte ich 20 Vorträge auf internationalen Tagungen pro Jahr. Die Forscher von RESOLV sind international bekannt. In der Chemie-Community ist RESOLV bekannter als die RUB.
Das klingt so, als wäre RESOLV inzwischen ein Selbstläufer?
Ja, das ist es.
Würden Sie das Cluster wieder gründen?
Ja würde ich.
Welche Eigenschaft ist die wichtigste bei so einer Unternehmung?
Man sollte schon Optimist sein – ich als Rheinländerin bin Optimistin von Haus aus. Man muss sehen, was man erreichen kann, und nicht die Haltung haben: Das wird sowieso nichts. Man muss Enthusiasmus mitbringen und Spaß an der Veränderung haben. Man muss auch kämpferisch sein. Wenn da eine Mauer ist, dann laufe ich dagegen an oder nehme den Weg außen herum. Irgendwann geht es dann doch.
Was wünschen Sie sich für RESOLV in den kommenden Jahren?
Spannende Wissenschaft und natürlich eine weitere Förderung über 2025 hinaus.